In Deutschland studieren weit mehr Frauen als Männer Humanmedizin.
Über die Hälfte der Doktoranden sind Frauen. In der Medizinforschung,
auf Professorenstellen und in Chefarztpositionen jedoch bleiben sie
rar. Eine aktuelle Studie des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler
hat erstmals das Ausmaß des Gender-Gaps in der Erforschung
angeborener Herzfehler quantifiziert. Mit alarmierenden Ergebnissen.
Forscherinnen werden dringend gebraucht, auch auf dem Gebiet der
angeborenen Herzfehler. Dank des medizinischen Fortschritts nimmt die
Zahl der Erwachsenen mit der weltweit häufigsten angeborenen
Fehlbildung stetig zu: um etwa 60 Prozent pro Jahrzehnt. Für ein
möglichst langes und gesundes Leben sind die Patienten auf die
kontinuierliche wissenschaftliche Arbeit vieler Forscher angewiesen.
Erleichtert das Frauen den Zugang zu Spitzenpositionen in der
Medizin? Und fällt die Gender-Lücke entsprechend moderater aus? Die
Ergebnisse der Studie des Kompetenznetzes Angeborene Herzfehler
sprechen eine andere Sprache.
Ernüchterndes Ergebnis
Über 35.000 Fachpublikationen aus den Jahren 2006 bis 2015 haben
die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durchforstet, um die
Geschlechterverteilung auf dem Forschungsgebiet der angeborenen
Herzfehler zu ermitteln. Mit für Deutschland besonders ernüchterndem
Ergebnis: Stellen Frauen weltweit gerade einmal 30 Prozent aller
Erstautoren und knapp 21 Prozent aller Seniorautoren, so sind es
hierzulande bei den Erstautoren nur 22 Prozent, bei den Seniorautoren
nur noch knapp über 12 Prozent. Damit rangiert Deutschland im unteren
Drittel von insgesamt 66 Ländern.
„Wissenschaftlerinnen sind in der Forschung unterrepräsentiert.
Das Dilemma ist seit vielen Jahren bekannt. Das aktuelle Ausmaß der
Geschlechterungleichheit in unserem Fachgebiet hat uns aber
überrascht. Gerade auf einem Forschungsgebiet wie dem der angeborenen
Herzfehler muss so ein Ergebnis alarmieren. In solchen dynamisch
wachsenden Pionierbereichen wird händeringend nach begabtem Nachwuchs
gesucht“, sagt Paul-Gerhard Diller, Oberarzt an der Klinik für
Kardiologie III: Angeborene Herzfehler (EMAH) und Klappenerkrankungen
am Universitätsklinikum Münster und Seniorautor der Gender-Studie.
Kleiner Anstieg, große Unterschiede
Insgesamt nur 25 Prozent der Gesamtheit der Autoren aller
untersuchten Fachpublikationen waren Frauen. Zwar ist der Anteil der
weiblichen Erstautoren im gesamten Untersuchungszeitraum weltweit um
0,8 Prozent gestiegen, auch gab es bei den Seniorautorinnen mit fast
0,6 Prozent einen leichten Zuwachs. Zugleich ergab die Studie jedoch,
dass die Entwicklung in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich
und teilweise sogar rückläufig ist, wie die Kardiologin und
Studienautorin Margarita Brida einschränkt: „Während Nordamerika,
Nord-. West-, und Südeuropa einen Anstieg des Anteils der weiblichen
Autorenschaft aufweisen, verzeichnen Osteuropa und Westasien einen
tatsächlichen Rückgang.“ Zum Anstieg tragen zudem einzelne Regionen,
nicht aber alle ihre Länder bei. So schert Deutschland aus der Gruppe
der westeuropäischen Länder deutlich nach unten aus.
Erstautorinnen und gemischte Teams erzielen bessere Ergebnisse
Was das in der Konsequenz bedeutet? Auch dafür liefern die
Ergebnisse der der von der EMAH Stiftung Karla Völlm geförderten
Studie interessante Anhaltspunkte: Publikationen mit einer
Erstautorin erzielten einen höheren durchschnittlichen Impact-Faktor
und wurden häufiger zitiert als solche mit einem männlichen
Erstautor. Ähnlich überlegen zeigten sich Publikationen mit einem
gemischten Autorenpanel. Sie wiesen einen höheren medianen
Impact-Faktor und mehr Zitationen auf als Publikationen homogener
Autorenpanel. Für die medizinische Laufbahn der Autoren haben
Impact-Faktoren und Zitationen einen erheblichen Stellenwert, wie
Gerhard-Paul Diller verdeutlicht: „Veröffentlichungen in
Peer-Review-Zeitschriften sagen nicht nur etwas über die relative
Qualität der Forschung aus. Sie sind nach wie vor ein integraler
Bestandteil des Promotionssystems und werden allgemein als
unerlässlich für den Aufstieg in die Spitzengruppe der akademischen
Medizin angesehen.“
Deutschland hinkt hinterher
Bezogen auf Deutschland zeigten die Studienergebnisse, dass der
Forschungsstandort bei der akademischen Produktion weit hinter seinen
Möglichkeiten zurückbleibe. Bei der Anzahl der Publikationen zu
Forschungsergebnissen auf dem Gebiet der angeborenen Herzfehler
rangiert Deutschland auf dem sechsten Platz hinter den USA, Japan,
China, Großbritannien und Italien. Bei den tonangebenden
Publikationen belegt Deutschland den dritten Platz hinter den USA und
Großbritannien. „Ein beunruhigender Zustand für den
Innovationsstandort Nummer eins. Wir werden weiterhin an
Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn wir versäumen, das verfügbare
Potenzial und Know-how von Frauen zu fördern“, befürchtet der
EMAH-Kardiologe.
Männer bevorzugt
Das scheitert offenkundig auch an den nach wie vor männlich
dominierten Gremien im Wissenschaftsbetrieb. Bei von den Fachverlagen
angeforderten Publikationen wie Vorworten, Fallberichten oder
Leitlinien sind weibliche Autoren deutlich seltener vertreten als bei
der originären Forschung. Die Autoren der Studie schließen daraus,
dass die bestehenden informellen Netzwerke nach wie vor männliche
Autoren bevorzugten. Zugleich verfassten Forscherinnen deutlich
seltener Briefe an die Herausgeber als ihre männlichen Kollegen. „Die
Zurückhaltung der Kolleginnen kommt nicht von ungefähr. Ein aktives
Forschungsengagement muss attraktiver werden für Frauen. Das bedeutet
auch, dass wir als männliche Vorgesetzte und Entscheider umdenken
müssen, um die Gender-Diversität in der Forschung bewusst und gezielt
zu fördern“, resümiert Gerhard-Paul Diller.
Seniorautorinnen fördern Erstautorinnen
Für ein solches Umdenken spricht auch die im Rahmen der Studie
erfolgte Analyse von länderspezifischen Faktoren, die sich positiv
auf die Beteiligung von Frauen an Forschung auswirken. Einbezogen
hatten die Wissenschaftler das jeweilige Bruttoinlandsprodukt, den
Human Development Index (HDI), den Gender Inequality Index (GII), die
Anzahl der Ärzte pro Kopf und die Beteiligung von Seniorautorinnen.
„Die Wahrscheinlichkeit der Mitwirkung einer Erstautorin stieg vor
allem dann, wenn eine Seniorautorin an der Forschung beteiligt war,“
fasst Margarita Brida das Ergebnis zusammen. So waren an den
Publikationen von Seniorautorinnen zu 50 Prozent Erstautorinnen
beteiligt, während die Publikationen ihrer männlichen Kollegen die
vertraute Schieflage aufwiesen: Bei 75 Prozent dieser Publikationen
waren die Erstautoren Männer.
Für Ihre Recherche:
Die Studie wurde unter dem Titel „Sex differences in publication
volume and quality congenital heart disease: are women
disadvantaged?“ in Open Heart, dem Fachmagazin der British
Cardiovascular Society veröffentlicht:
https://openheart.bmj.com/content/6/1/e000882
http://ots.de/WEvzml
Zahlen & Fakten
Der lange Weg zur Vielfalt
Medizinerinnen in Deutschland
Folgt man im jüngsten Bericht der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz von Bund und Ländern (GWK) den Zahlen des
Statistischen Bundesamtes entscheiden sich seit Jahrzehnten deutlich
mehr Frauen als Männer für ein Studium der Humanmedizin. Lag ihr
Anteil 1997 bereits bei fast 53 Prozent, stellten Frauen 2016 rund 70
Prozent der Studienanfänger in der Fächergruppe
Humanmedizin/Gesundheitswissenschaften. Auch die Zahl der
berufstätigen Ärztinnen steigt kontinuierlich an. Stellten sie 1991
nur ein knappes Drittel der Ärzteschaft, betrug ihr Anteil Ende 2017
rund 47 Prozent wie die Bundesärztekammer vorrechnet.
Quellen:
http://ots.de/dK1sNJ
http://ots.de/3adjb4
Doch wie auch an dem durch die Studie ermittelten Gefälle zwischen
Erstautorinnen und Seniorautorinnen im Bereich der AHF-Forschung in
Deutschland abzulesen ist, kehrt sich das Geschlechterverhältnis in
der Humanmedizin und den Gesundheitswissenschaften nach der Promotion
um. Liegen Frauen bei der Promotion noch mit 59 Prozent vorne,
beträgt ihr Anteil bei den Habilitationen nur noch 27 Prozent. Von
sämtlichen Professorenstellen in der Humanmedizin und den
Gesundheitswissenschaften sind gerade einmal 21 Prozent von Frauen
besetzt; bei den höher dotierten W3- und C4-Professuren sind es nur
noch 14 Prozent.
Quelle:
http://ots.de/lOUHmU
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Wissenschaftskommunikation
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