Was macht Migration mit der Identität eines Menschen und wie wirken sich Kriegserfahrungen auf das Selbstbild aus? Als die Soziologin Ana Mijić ihren Forschungsfokus 2014 erstmals auf diese Fragen richtete, hatte sie die Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Blick. Dass das Thema kurze Zeit später eine neue Brisanz erhalten sollte, war für die Wissenschafterin nicht abzusehen.
Konkret beschäftigt sich Mijić, die derzeit eine durch den FWF geförderte Hertha-Firnberg-Stelle an der Universität Wien innehat, mit den Folgen des Bosnienkrieges. Beendet vor 22 Jahren, ist dieser inzwischen Geschichte. Doch der Konflikt zwischen den drei Volksgruppen – den Serben, Kroaten und Bosniaken – schwelt bis heute. Viele sind in den 1990er-Jahren geflüchtet. Rund 90.000 Kriegsflüchtlinge aus Bosnien kamen nach Österreich. Insgesamt leben Schätzungen zufolge rund 200.000 Menschen mit bosnischem Migrationshintergrund in Österreich.
Ethnische Zugehörigkeit und Opferrolle
In ihrem Dissertationsprojekt versuchte Mijić zu entschlüsseln, wie die Menschen vor Ort, also in Bosnien-Herzegowina, nach dem Krieg ihre Identitäten neu definierten. Nachdem die Bevölkerung während des Krieges auf ihre ethnische Zugehörigkeit zurückgeworfen wurde, ist diese zu einem ganz zentralen Bestandteil des Selbst geworden, wie Mijić in den Gesprächen mit Menschen aus allen sozialen Schichten und aus verschiedensten Region herausfand. „Indem sie ihre eigene ethnische Gruppe zum Opfer machen, gelingt es ihnen auch nach dem Krieg an einem positiven Wir-Bild festzuhalten“, erklärt sie.
Ausgehend davon richtet die Wissenschafterin nun ihr Interesse auf das Thema „Diaspora“. Hier kommt jedoch noch eine andere wesentliche Komponente ins Spiel: die Migrationserfahrung. „Der Zusammenhang von Krieg – Nachkrieg – Migration stellt einen spezifischen Erfahrungsraum dar, innerhalb dessen die Menschen in der Diaspora ihre Identität neu konstruieren (müssen)“, so die Soziologin. Sowohl die Herkunft als auch die neue Heimat werden damit zum Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. In ihrem Firnberg-Projekt stellt Mijić nun die Frage, wie Bosnierinnen und Bosnier in Österreich in dem Spannungsfeld von Krieg, Nachkrieg und Migration und damit auch dem Leben in einer Minderheitenkonstellation ihre Selbstbilder entwerfen.
Long-Distance Nationalismus?
Die bosnischen Diasporas in Österreich will die Soziologin in den kommenden drei Jahren in ihrer ganzen Bandbreite erfassen. – Von der Gastarbeitergeneration über die Kriegsgeflüchteten bis zu den in Österreich geborenen Personen, ist sie den Lebenswelten der Eingewanderten und ihrer Nachfahren auf der Spur. Nicht zuletzt, weil davon auszugehen ist, dass die Menschen mit ihren spezifischen Identitäten eine Gesellschaft mitgestalten, in der sie gar nicht leben (müssen). – Sei es auch auf Kosten der Bevölkerung in der Herkunftsgesellschaft. Die Forschung zeigt, dass Ausgewanderte in der Regel ein stärkeres Bedürfnis nach der Bestimmung der eigenen Herkunft haben: „Dann wird, wenn es etwa um Wahlen geht, eher auf die nationalistische Karte gesetzt“, erklärt Ana Mijić. Die Wissenschaft spricht hier vom „Long-distance nationalism“.
Kosmopolitischer Nationalismus
Mijićs These lautet jedoch, dass die im Ausland lebenden Bosnierinnen und Bosnier einen kosmopolitischen Nationalismus pflegen: „Ich gehe davon aus, dass beide Komponenten in den Selbstbildern eine Rolle spielen, denn – so die These – nationalistische und kosmopolitische Deutungen können durchaus nebeneinander bestehen.“ Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie sich dieses Nebeneinander gestaltet. Hier vermutet Mijić durchaus milieu- und generationsspezifische Unterschiede: Die Generation der sogenannten „Gastarbeiter/innen“ wird andere identitätsrelevante Deutungen herausgebildet haben als Menschen, die während des Krieges nach Österreich gekommen sind; ältere Menschen, die noch in Bosnien sozialisiert wurden, verarbeiten die Spannung zwischen Herkunft und Ankunft sehr wahrscheinlich anders als junge Menschen, die als Kinder nach Österreich auswanderten, oder sogar hier geboren wurden.
Hier hat die Nachwuchswissenschafterin soeben mit ihren Recherchen begonnen und unter anderem mit jungen Bosnierinnen und Bosniern der zweiten und dritten Generation gesprochen. „Es zeigt sich, dass sich auch die Jungen Fragen zu ihrer Identität stellen“, konstatiert Mijić. Doch vor allem, so legen zumindest die bisherigen Analyseergebnisse nahe, weil sie von anderen zu einer Identifikation gedrängt werden: Wer nach seiner „Herkunft“ und „Identität“ gefragt wird, kommt nicht umhin, sich damit auseinanderzusetzen und Antworten zu finden. Oder anders formuliert: „Das Verlangen nach Eindeutigkeit produziert Eindeutigkeit“, so Mijić.
Zur Person
Ana Mijić (https://www.soz.univie.ac.at/personen/mitarbeiterinnen-am-institut-fuer-soziologie/mijic-mag-ana/ana-mijic-publikationen-uni-wien/) studierte Politikwissenschaft und Soziologie in Tübingen. 2007 wechselte sie als Assistentin an das Institut für Soziologie der Universität Wien und publizierte das Dissertationsprojekt „Verletze Identitäten“ im Campus Verlag. Seit 2016 erforscht Ana Mijić im Rahmen einer Hertha-Firnberg-Stelle des FWF die Nachkriegsdiaspora(s) der Bosnierinnen und Bosnier in Österreich.
Publikationen
Mijić, Ana: Verletzte Identitäten. Der Kampf um den Opferstatus im bosnisch-herzegowinischen Nachkrieg (http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/verletzte_identitaeten-8573.html). Frankfurt/New York: Campus Verlag, 2014
Frühwirth, Angelika/Mijić, Ana: F[r]iktionen. Eine Sozialphysik der Reibungslosigkeit. In: Psychologie & Gesellschaftskritik Jg. 41, Nr. 161, Heft 1, 2017
Mijić, Ana: „Hurt Identities?“ The Postwar Bosnian Narrative of Self-Victimization, in: Ruthner, Clemens et al. (Hg.): Narrative/s in Conflict (Culture & Conflict Series). Berlin/New York: de Gruyter (in Druck)
Bild und Text ab Montag, 7. August 2017 ab 9.00 Uhr MEZ verfügbar unter: http://scilog.fwf.ac.at
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Dr. Ana Mijić, M.A.
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