Sie gelten als die Waisenkinder in der
Medizin und sind weitgehend unbekannt. Und dennoch kennt fast jeder
von uns in seiner Familie, in seinem Freundes- oder Bekanntenkreis
jemanden, der mit einer seltenen Erkrankung lebt. Verwunderlich ist
dies nicht, werden doch 7.000 bis 8.000 der rund 30.000 bekannten
Krankheiten als selten eingestuft. Dies ist dann der Fall, wenn
weniger als einer von 2.000 Menschen betroffen ist. In Deutschland
sind mehr als vier Millionen Menschen von einer dieser seltenen
Erkrankung betroffen, in der Europäischen Union sind es etwa 30
Millionen. Über 80% der seltenen Erkrankungen sind auf eine
genetische Ursache zurückzuführen, meist beginnen sie im Kindes- und
Jugendalter.
Und deshalb sind Kinder- und Jugendärzte auch zumeist die primären
Ansprechpartner für Kinder und Jugendliche mit seltenen Erkrankungen,
berichtet Dr. Christian Fricke, Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin (DGSPJ). Doch nur sehr wenige
Ärzte sind über die jeweilige seltene Erkrankung informiert. Für die
betroffenen Kinder und deren Familien ist daher bereits die Suche
nach der richtigen Diagnose häufig sehr beschwerlich. Und viele haben
eine jahrelange Odyssee hinter sich, bis sie endlich qualifiziert
betreut und behandelt werden können.
Kinder und Jugendliche mit einer seltenen Erkrankung werden zum
Teil bereits in Ambulanzen der Universitäts-Kinderkliniken oder in
einem der über 140 Sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) gut betreut. Das
ist dann der Fall, wenn sich beispielsweise bei seltenen Krankheiten
des Nervensystems besonders erfahrene Kinder- und Jugendneurologen
gemeinsam mit einem multidisziplinären Team aus Psychologen,
Therapeuten und anderen Berufsgruppen um die verschiedenen Facetten
der Erkrankungen kümmern. Sehr hilfreich ist es für die Familien
häufig auch, wenn Kontakte zu anderen Familien mit einem Kind mit
derselben seltenen Erkrankung hergestellt werden können.
Wenn aber die betreuende Einrichtung vor Ort auch nicht weiter
weiß und auch keine Selbsthilfegruppen für die einzelne seltene
Erkrankung existiert, müssen spezialisierte Institutionen
eingeschaltet werden. Das sind die Zentren für Seltene Erkrankungen,
die zunächst eine Anlaufstelle für alle Kinder und Jugendlichen mit
seltenen Erkrankungen sind. Diese sind zum Teil – wie etwa in Berlin,
Göttingen, Heidelberg, München oder Tübingen – an Uni-Kinderkliniken
oder an SPZ“s angegliedert. Und viele dieser Zentren haben sich
wiederum auf ganz spezielle seltene Krankheitsbilder spezialisiert.
So betreut das Zentrum für seltene Erkrankungen in Heidelberg
Patienten mit seltenen Stoffwechselerkrankungen, das Zentrum in
Freiburg solche mit seltenen Muskelerkrankungen. Im Berliner Centrum
für Seltene Erkrankungen der Charité, das für eine Vielzahl seltener
Erkrankungen kompetent ist, kommt der Abteilung für Humangenetik eine
tragende Rolle zu, um zusammen mit den Sozialpädiatern die geeigneten
Ansprechpartner für die Diagnose- und Therapie zu finden.
Auch neue Zentren rücken zunehmend in den Fokus, um die „Seltenen“
aus dem Schattendasein herauszuführen. So richtet der Sozialpädiater
Prof. Knut Brockmann von der Universität Göttingen sein Zentrum auf
die besonderen Bedürfnisse für Kinder mit seltenen neurologischen
Erkrankungen aus. Geplant sind zudem bundesweite Erhebungen zu
seltenen neurologischen Erkrankungen, um auf Dauer die Qualität der
Behandlungen qualitativ verbessern zu können. Und in München möchte
Prof. Volker Mall als Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie im
Kinderzentrum München spezielle Patientenschulungsprogramme für
seltene Erkrankungen aufbauen und weiterentwickeln, so zum Beispiel
für herz- und nierentransplantierte Kinder oder auch für Kinder mit
seltenen Nierenerkrankungen, anorektalen Fehlbildungen oder
Neurofibromatose.
Diese Aktivitäten, die auf den 2013 ins Leben gerufenen Nationalen
Aktionsplan für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE)
zurückgehen, zielen genau in die richtige Richtung, meint auch
Sozialpädiatrie-Präsident Christian Fricke. Allerdings müssten solche
Behandlungsangebote in spezialisierten SPZ ausreichend finanziert
werden. Das ist noch längst nicht der Fall. Und wem würde man das
mehr gönnen, als den bisherigen „Waisenkindern in der Medizin?“
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