Als womöglich erster Industriezweig hat die Textilbranche eine moderierte Vorausschau in die Zukunft geworfen. Nach gut einjähriger Expertenbegleitung wurde jetzt für den nach Automotive und Maschinenbau dritt innovativsten Wirtschaftsbereich die Zeitreise „Perspektiven 2025“ beendet. Von der Methodik und den Ergebnissen könnten auch andere Hightech-Branchen profitieren, zum Beispiel die Ernährungswirtschaft.
Begleitet durch den als besonders industrienah geltenden Zukunftsforscher Thomas Strobel (FENWIS GmbH, Gauting), hatte die Zukunftsexpedition im Auftrag der Textilforschung unter dem Motto „Das Denkbare machen, statt das Machbare denken!“ auf zehn Themenfeldern – von Bekleidung über Ernährung und Gesundheit bis Wohnen – über 250 bewertete Ideen und Lösungsvorschläge zum Einsatz technischer Textilien in diesen Wachstumsmärkten erbracht. Auch für die Lebensmittelproduktion wurden in der Zukunft zunächst Prämissen für 2050 „gefunden“. Nachfolgend wurde textile Ideen abgeleitet und der Forschungsbedarf für die 16 deutschen Textilinstitute ermittelt, die jetzt schon mit Filtern, Nebelfängern und anderen Hightechlösungen für den Ernährungssektor wertvolle Beiträge leisten.
Langfristige Prämissen für das Themenfeld Ernährung demnach sind:
Erschließung neuer landwirtschaftlicher Produktionsflächen in bisher unfruchtbaren Gebieten, im Meer (Aquafarming) oder in Städten (Vertical Farming); neue Sorten steigern die Nahrungsmittelproduktion um 60 Prozent
Durch einen effizienteren Umgang mit Lebensmitteln lassen sich die verfügbaren Kalorien pro Person um fast 50 Prozent steigern; 2012 dagegen verdarb noch ein Drittel aller Lebensmittel oder landete ungenutzt auf dem Müll
Vegetarische Lebensmittel sichern die Grundversorgung der Bevölkerung. Fleisch wird mit gezüchtetem Zellgewebe künstlich produziert; Functional Food ergänzt die Nahrung um gesundheitsfördernde Aspekte
Größere Anstrengungen zur Gewinnung von Trinkwasser aus nachhaltigen Quellen sind erfolgt (Regenwasser, Brauchwasser, Meerwasser); die effiziente Trinkwasserverfügbarkeit durch Beseitigung von Rohrleitungsverlusten und effizientem Transport und Logistik sind umgesetzt
Das im November mit der Herausgabe einer Dokumentation (siehe auch http://www.textilforschung.de/pdfcat/Techtex2025/) abgeschlossene Projekt wird als außergewöhnliche Vorarbeit eines Industrieverbandes für seine Mitglieder bewertet. Es sei eine Wissensbasis geschaffen worden, die es Unternehmen ermöglicht, aus diesen Vorarbeiten selbstständig oder mit Expertenbegleitung firmenspezifische Strategien für die Umsetzung in Innovationen und in neue Geschäftsmodelle abzuleiten, hieß es.
Blick von Übermorgen zurück
Besonders für Manager, Forscher und Fachstudenten, die in die Zeitreise eingebunden waren, interessant: Der gemeinsame Entwurf von Zukunftslandkarten Form von Mind Maps, Daten und Fakten, die in den nächsten Jahrzehnten helfen, die Zahl von Überraschungen im Geschäftsumfeld zu reduzieren. Sie entstehen als erstes Ergebnis der Expedition in eine fernere Zukunft, beispielsweise in die Mitte des Jahrhunderts. Im zweiten Schritt wird vom Jahr 2050 auf einen deutlich näheren Zeitabschnitt – bei Textil das Jahr 2025 – zurückgeblickt. Strobel: „Wer an übermorgen denkt, ist gezwungen, sich von der naheliegenden Fortschreibung bisheriger Erfahrungen zu lösen.“ Dabei wird mit Prämissen aus Studien und Szenarien gearbeitet, die Experten als wahrscheinlich annehmen.
Das Verblüffende: Diese Vorgehensweise befreit Menschen von ihren rationalen Filtern, was und warum aus heutiger Sicht nicht machbar sein wird. Strobel, der in Strategieabteilungen von Konzernen und Mittelstandsfirmen tätig war, nennt das „Gedankenfreiheit für 100 Milliarden Gehirnzellen“. Auf diese Weise können beispielsweise Unternehmen und sogar Industriezweige ausloten, was konkret passieren muss, damit erfolgreiche Anpassungen der Geschäftsmodelle und Unternehmensstrategien in den kommenden 10 bis 15 Jahren die Geschäftsentwicklung bis 2050 sichern.
„Bauchgefühl für morgen“
Der spezielle Nutzen der Zukunftslandkarte entsteht für die Akteure durch Eindrücke, die sie aus einer „simulierten Zukunftsreise“ mitnehmen: Erarbeitete Szenarien, vernetzte Trends, geführte Diskussionen und gemeinsame Ableitungen verändern das Denken in Zukunftsfragen. Diese erlebten Denkerfahrungen geben allen Beteiligten dauerhaft ein „Bauchgefühl für morgen“. Mit Hilfe der Retropolation genannten Methodik, die im Internet unter www.fenwis.de näher erläutert wird, lassen sich heute bereits Anforderungen erkennen, die Kunden und Märkte ggf. erst in einigen Jahren stellen werden. Antworten auch auf solche Fragen werden möglich: In welchen Bereichen macht es Sinn, Kompetenzen aufzubauen? Wie hängen Zukunftstrends voneinander ab? Welcher neue Wissensbedarf entsteht? Für welche Veränderungen müssen die jeweiligen Geschäftsmodelle frühzeitig anpasst werden?
Nachgefragt bei Thomas Strobel:
Warum sollten Branchen und Unternehmen in die Zukunft schauen?
„Wer sich schneller bewegt und weiter vorausschaut als der Markt, kann rechtzeitig Anpassungen vornehmen und frühzeitig Weichen stellen. Und er kann für ausgewählte Szenarien Maßnahmen vordenken. Alle anderen können nur auf bereits eingetretene Veränderungen reagieren. Das gilt für Branchen und Unternehmen ebenso wie für Individuen. Deswegen sind persönliche Zukunftslandkarten auch für Manager, Ärzte, Politiker oder Wissenschaftler im Altersbereich gerade ab Ü 40, wo viele den zweiten Teil ihres Lebens neu planen, zunehmend von Interesse.“