Masterprojekt an der Universität Kassel im berufsbegleitenden
Studiengang ÖPNV und Mobilität (www.unikims.de/oepnv)
Der autonom fahrende Personenwagen kann den Öffentlichen
Personennahverkehr (ÖPNV) schon in zehn bis fünfzehn Jahren
regelrecht „überrollen“, oder aber die ÖPNV-Anbieter „verankern“ das
Thema heute schon in ihren Unternehmen und binden die Politik sowie
die Öffentlichkeit ein. Dann kann das Autonome Fahren auf Straße und
Schiene den ÖPNV revolutionieren. Das ist das Fazit eines
Masterprojekts zum Autonomen Fahren an der UNIKIMS, der Management
School der Universität Kassel.
„Im Extremfall“, heißt es in der Ausarbeitung, wäre das Autonome
Fahren „existenzbedrohend“ für den ÖPNV, denn dessen
Alleinstellungsmerkmal, ohne eigene Fahrerlaubnis gefahren zu werden,
ginge verloren. Der Leiter des Projekts, Alexander van Wersch, von
der DB Regio AG in Nürnberg und Student in dem Studiengang, fordert
die öffentlichen Verkehrsunternehmen auf, gemeinschaftlich zu
handeln, um das Thema zu besetzen. Gegenüber den Belegschaften der
Verkehrsunternehmen, die sich komplett verändern werden, fordert das
Projektteam eine offene Kommunikation. Ungeachtet dessen seien
Widerstände aus den Belegschaften zu erwarten, denn mit der
Umstellung auf das Autonome Fahren auf Straße und Schiene werden die
Fahrer überflüssig, während anders qualifiziertes Personal benötigt
werde.
Praktiker aus Verkehrsunternehmen und Wissenschaftler kooperieren
in der UNIKIMS
Das Masterprojekt mit dem Titel „KASELF – STRATEGIEENTWICKLUNG FÜR
AUTONOMES FAHREN – Entwicklung einer Strategie zur Integration von
Aspekten des autonomen Fahrens für die Kasseler Verkehrsgesellschaft
(KVG)“ wird von fünf Studierenden des berufsbegleitenden
Masterstudiengangs „ÖPNV und Mobilität“ an der UNIKIMS erarbeitet.
Wissenschaftlicher Leiter des Studiengangs ist Prof. Dr.-Ing. Carsten
Sommer. Dr. Thorsten Ebert, Vorstandsmitglied der KVG AG, ist Dozent
im Studiengang und zusammen mit Prof. Dr.-Ing. Sommer Betreuer des
Masterprojektes.
Ebert: „Autonomes Fahren ist zentrale Herausforderung für ÖPNV“
Für Ebert gehört Autonomes Fahren zusammen mit den neuen
Mobilitätsplattformen und einem erkennbaren Wandel des
Mobilitätsverhaltens in der Gesellschaft zu den zentralen
Herausforderungen für den ÖPNV. „Inzwischen erkennt auch die
Autoindustrie die Relevanz der Themen, die wir seit jeher
beherrschen, wie etwa die Organisation von Verkehr und die
Entwicklung von Verkehrsdienstleistungen“, sagt Ebert: „Daher sind
wir öffentliche Verkehrsunternehmen gut beraten, das Autonome Fahren
als fundamentale Veränderung im Mobilitätsgeschehen ernst zu nehmen
und darauf konsequent zu reagieren.“
Autonomes Fahren wird zum „Game-Changer“ mit disruptivem Effekt
für den Verkehr
Die Autoren des Projektberichts zitieren ein Positionspapier des
Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) von 2015. Danach werde
der Einsatz vollautonom fahrender Fahrzeuge einen „disruptiven Effekt
auf dem Verkehrsmarkt haben, der die heutigen Nutzungsmuster, Besitz-
und Geschäftsmodelle durcheinanderwirbeln“ werde. In dem Papier wird
das Autonome Fahren als „Game-Changer“ beschrieben, weil es die
traditionellen Grenzen zwischen den Verkehrssystemen verwischen wird,
denn das selbstfahrende Fahrzeug könne im Prinzip alles sein:
privates Auto, Taxis, Bus, Carsharing-Fahrzeug oder Sammeltaxi. Das
Projektteam entwirft ein Bild von der nahen Zukunft, in dem es schon
bald weit weniger private PKW mehr geben könnte, sofern die
Verkehrsunternehmen ein Konzept entwickeln, in dem der ÖPNV und das
Autonome Fahren auf Straße und Schiene miteinander verschmelzen. Die
Zahl der Fahrzeuge würde dramatisch sinken, die wenigen verbliebenen
wären aber nahezu ständig im Einsatz. Der Bedarf an Parkraum würde
erheblich sinken, und der Stadtplanung eröffneten sich neue
Möglichkeiten. Heute parke ein privater PKW 95 Prozent und werde nur
in fünf Prozent der Zeit für Fahrten genutzt.
Fahrerlose Züge und autonome Kleinwagen fahren ohne Zwischenfälle
Autonomes Steuern von Fahrzeugen sei nicht neu, beschreiben die
Autoren der wissenschaftlichen Arbeit die Ausgangslage. Sie verweisen
auf die Seefahrt, die Autopiloten seit 1908 nutzt, und auf die
Luftfahrt, die seit 1949 Autopiloten einsetzt. In Deutschland gibt es
erst seit 2008 eine fahrerlose U-Bahn. Diese verkehrt in Nürnberg und
übertrifft in ihrer Verkehrsleistung nicht-autonom-fahrende Züge,
weil die fahrerlosen Züge im Gegensatz zu konventionellen Bahnen
präziser und fehlerfrei in dichterer Folge fahren. In anderen Ländern
– wie in Frankreich – sind solche Züge schon viel länger in Betrieb.
In China hat ein Schienenfahrzeughersteller ein autonom fahrendes
Verkehrsmittel entwickelt, das zwar aussieht wie eine Straßenbahn,
aber wie ein Bus mit Gummirädern auf Asphalt fährt. Das spart die
teure Investition in das aufwendige Gleis. Das vollautomatisch
fahrende, von Akkus getriebene Fahrzeug für bis zu 500 Fahrgäste
orientiert sich als Spurführung an einer gestrichelten Linie auf der
Straße. In Großbritannien wurde mit dem Lutz Pathfinder ein autonom
fahrender Kleinwagen für zwei Personen und Gepäck erfolgreich und
ohne jede Zwischenfälle im Straßenverkehr getestet. Das Fahrzeug soll
in weiteren 40 Städten in Großbritannien erprobt werden. Die Autoren
des Masterprojekts verweisen auf weitere Versuche etwa von Google auf
dem Feld des Autonomen Fahrens.
„Das vollautomatische Fahren auf Straße und Schiene wird kommen“
Für van Wersch und das Projektteam steht außer Frage, dass das
vollautomatische Fahren auf der Straße und der Schiene kommen wird.
Auch wenn das Autonome Fahren noch nicht serienreif sei, sollten die
Unternehmen schon heute die Beschaffung autonom fahrender Fahrzeuge
bedenken.
Hochleistungsstrecken des ÖPNV bleiben, und autonome Fahrzeuge
erschließen die Fläche
Van Wersch hält ein Szenario für wahrscheinlich, in dem die
Hochleistungsstrecken des ÖPNV, auch die schienengebundenen, bleiben
oder sogar noch ausgebaut werden, während die autonom fahrenden
Straßenfahrzeuge in unterschiedlichen Größen, vom Kleinwagen über den
Kleinbus bis zum Omnibus, die Fläche erschließen werden. Die
Fahrzeuge seien nicht mehr an feste Routen gebunden und könnten die
Fahrgäste zu Hause abholen oder bis nach Hause bringen. Das
Projektteam empfiehlt den Verkehrsunternehmen die Kooperation mit
anderen Unternehmen, die heute schon „Sharing-Konzepte“ auf dem Markt
für Mobilität bieten.
Die Verkehrsunternehmen benötigen Mobilitätsplattformen zur
Integration neuer Anbieter
Die Verkehrsunternehmen müssten zügig Mobilitätsplattformen
entwickeln, um das Autonome Fahren und Kooperationen mit anderen
Anbietern zu integrieren. Zugleich sei ein passendes
Ticketverkaufssystem über Smartphones aufzubauen. Schließlich gebe es
kein Personal mehr, das Fahrscheine verkaufe oder das Lösen eines
Tickets, etwa beim Einsteigen in den Bus, kontrolliere.
Auch das Tarifsystem müsse den Veränderungen angepasst werden,
wenn die Fahrzeuge zum Beispiel nicht mehr auf festen Routen, sondern
nach den Wünschen der Fahrgäste fahren. Es biete sich eine Abrechnung
nach Kilometern oder Zeit an.
ÖPNV muss für das Autonome Fahren als Teil der Daseinsvorsorge
werben
Indes sei es die Aufgabe von Vertrieb und Marketing der
Verkehrsunternehmen, für Akzeptanz des Autonomen Fahrens bei den
Kunden, in der Gesellschaft und bei der Politik zu sorgen. Der
Umstieg auf das Autonome Fahren sei zu finanzieren, wenn es auch in
Zukunft noch einen ÖPNV geben solle. Die Verkehrsunternehmen müssten
der Politik die Bedeutung des Wandels klarmachen und sich in eine
Definition des Gemeinwohls unter den vollkommen neuen Bedingungen
einbringen. Die Privilegien, die der ÖPNV heute schon mit dem Recht,
in Fußgängerzonen einzufahren oder über Vorrangschaltungen an Ampeln
beschleunigt durch die Städte geschleust zu werden, genieße, sollten
erhalten und auf autonom fahrende Autos im öffentlichen Besitz
ausgeweitet werden. Die Nutzung privater Fahrzeuge im Sinne des
hergebrachten Individualverkehrs sollte hingegen eingeschränkt
werden, auch wenn diese autonom fahren. Das Projektteam schlägt für
den klassischen Individualverkehr zum Beispiel Einschränkungen beim
Befahren der Städte, eine City-Maut, die Verknappung von Parkraum,
eine Steuerung über Parkgebühren und ein Tempolimit in Städten von 30
Kilometer in der Stunde vor.
Szenario: Straßenbahn und Bus brauchen keine Fahrer mehr
Die Verkehrsunternehmen seien in jedem Fall gezwungen, sich neu zu
strukturieren, denn im vollständigen Ausbauzustand des Autonomen
Fahrens werden die Fahrer von Bussen und Bahnen nicht mehr benötigt.
Stattdessen werden Techniker mit anderen Qualifikationen benötigt und
Mitarbeiter für die Disposition, die Fehler an möglicherweise
liegengebliebenen Fahrzeugen beheben. Van Wersch spricht von „neuen
Berufsfeldern“, die entstehen werden. Dieses weitgehendste Szenario
werde aber noch einige Zeit benötigen und vermutlich nicht vor 2030
zu erwarten sein.
Verkehrsunternehmen müssen Strategie für Autonomes Fahren
gemeinsam finden
Das Projektteam, dessen Mitglieder aus unterschiedlichen deutschen
Verkehrsunternehmen sowie von Aufgabenträgern stammen und sich mit
dem berufsbegleitenden Masterstudium für weitere Fach- und
Führungsaufgaben in ihren Unternehmen qualifizieren, rät den
Verkehrsbetrieben zu einer gemeinsamen, ganzheitlichen Betrachtung
der Aufgabe. Van Wersch warnt vor „Insellösungen“ und Alleingängen
einzelner Unternehmen. Stattdessen sollten alle Unternehmen,
gebündelt im VDV als dem gemeinsamen Verband, eine Strategie und
technische Lösungen entwickeln.
Verkehrswissenschaftler Prof. Dr. Sommer: „Der Systemwechsel
kommt“
Der wissenschaftliche Leiter des Studiengangs, der
Verkehrswissenschaftler Sommer, ist sicher, dass „der Systemwechsel
kommt“. Er eröffne die große Chance für die Rückgewinnung der Stadt
als Lebensraum. Die weitere Investition in Parkhäuser sei „vertanes
Geld“, wenn diese nicht mehr gebraucht werden, da sich die Zahl der
Fahrzeuge drastisch reduzieren könnte. Wenn weniger Park- und
Straßenraum benötigt werde, erhielten die Städte eine Chance, sich
neu zu gestalten und alte Wunden zu schließen. Die lebendige Stadt
ist nach Auffassung des Verkehrswissenschaftlers ein Raum zum
lebenswerten Aufenthalt, in welcher der Verkehr nur eine dienende
Funktion habe. Doch diese Chance „kommt nicht von allein“, sagt
Sommer.
Sommer sieht Autonomes Fahren als Chance: „Wie soll die Stadt der
Zukunft aussehen?“
Sommer wendet sich angesichts des epochalen Wandels, der sich
abzeichne, an die Politiker, die Verantwortlichen in Städten und
Landkreisen sowie an die Eigentümer der Verkehrsbetriebe: „Wir müssen
überlegen: Wie soll die Stadt in Zukunft aussehen?“ Gefordert sei ein
stimmiges, ganzheitliches Konzept. Das Autonome Fahren könnte
zunächst auch den Individualverkehr stärken, zumal auf den Straßen
Platz für 40 Prozent mehr Fahrzeuge wäre, wenn diese autonom und
damit sicherer fahren. Wenn aber mehr Fahrzeuge auf demselben
Straßenraum in die Städte führen, wüchse der Parkdruck noch weiter.
Diese einfache Betrachtung zeige, dass der Systemwechsel intelligent
gesteuert werden müsse. „Geht es weiter wie bisher mit privaten
Fahrzeugen, oder mit der Integration von autonomen Fahrzeugen in
Sharing-Modelle und ein Verkehrskonzept mit ÖPNV?“, fragt Sommer. Die
autonomen Fahrzeuge müssten nicht einem ÖPNV-Anbieter gehören, aber
es komme auf ein integriertes System an. Neue Player könnten in den
Markt treten. Hierfür seien aus der Überzeugung, das die
Gewährleistung von Mobilität zur Daseinsvorsorge für alle gehöre,
neue Rahmenbedingungen zu setzen. Es gelte Rosinenpickerei zu
verhindern, indem etwa neue Anbieter nur wirtschaftlich zu
betreibende Mobilitätsdienstleistungen anbiete.
Für die KVG als einem kommunalen Verkehrsbetrieb bietet die
Zusammenarbeit mit der Uni Kassel im Masterstudiengang ÖPNV und
Mobilität nach den Worten von Dr. Thorsten Ebert, Vorstandsmitglied
der KVG AG, „eine hervorragende Möglichkeit“, solche Themen im Rahmen
von wissenschaftlich begleiteten Projekten bearbeiten zu lassen: „Die
interdisziplinär besetzten Gruppen beleuchten die Themen aus
verschiedenen Blickrichtungen. Wir sind froh, dass es einen solchen
Studiengang an der Uni Kassel gibt, zumal dieser uns auch die
Möglichkeit bietet, eigene Mitarbeiter dort weiter zu entwickeln.“
„Die Verkehrswissenschaft“, sagt Univ.-Prof. Dr.-Ing. Carsten
Sommer, Leiter des Fachgebiets Verkehrsplanung und Verkehrssysteme an
der Universität Kassel, „ist eine angewandte Wissenschaft, die
unmittelbar dem Menschen dient. Wir verbessern die Prozesse im Alltag
der Menschen, wir entlasten Städte und Natur, wir schaffen
Lebensqualität. Eine Voraussetzung dafür ist unsere enge Vernetzung,
ja der unmittelbare Austausch mit der Praxis. Darum haben wir auch
den in Deutschland einmaligen berufsbegleitenden Masterstudiengang
ÖPNV und Mobilität entwickelt, in dem Kompetenzen und Methoden
vermittelt werden, um die großen Herausforderungen im Verkehrsbereich
– etwa den Klimaschutz und die Mobilitätssicherung im ländlichen Raum
– bewältigen zu können. Wissenschaft und Praxis werden darin eins.
Veränderungen werden für jedermann offensichtlich und wir alle werden
in die Lage versetzt, mit ihnen umzugehen sowie positiven Einfluss zu
nehmen, wenn wir nur wollen. Der Austausch mit den
Verkehrsunternehmen und deren Mitarbeitern, die unsere Lehrende und
Studierende sind, ist dafür die Voraussetzung“.
Zu dem Projektteam gehören:
Stefanie Kellner, Kasseler Verkehrs- und Versorgungs-GmbH,
Referentin Interne Kommunikation
Andreas Klein, Abellio Rail Baden-Württemberg GmbH, Teamleiter
Betriebs- und Verkehrsplanung
Alexander van Wersch, DB Regio AG, Fahrzeugingenieur
Nicolas Vehling, Vehling Reisen GmbH, Betriebsleiter
Behzat Zümrüt, Region Hannover, Bauingenieur
Gerne stellen wir Ihnen auch die gesamte Arbeit zur Verfügung.
Bitte sprechen Sie uns an.
Pressekontakt:
UNIKIMS – die Management School der Universität Kassel
UNIKIMS GmbH | Universitätsplatz 12 | 34127 Kassel
Dr. Jochen Dittmar
Tel.: 0561 804 2913
mailto: dittmar@uni-kassel.de
Prof. Dr.-Ing. Carsten Sommer
Tel.: 0561 804 3381
mailto: c.sommer@uni-kassel.de
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