Psychiatriekongress 2018 / Volkskrankheit: ADHS hat Probleme erwachsen zu werden (FOTO)

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist in
Deutschland sehr häufig. Daten des Kinder- und
Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) zeigten schon vor 10 Jahren, dass bei
mindestens 4,8 % der Kinder und Jugendlichen ADHS diagnostiziert
wird, weitere 4,9% können als Verdachtsfälle gelten [1]. Da auch bis
zu 5% der Erwachsenen unter der Erkrankung leiden [2], wird ADHS
gelegentlich als „Volkskrankheit“ bezeichnet. Ein ungeklärtes
Phänomen ist jedoch, dass sehr viele heranwachsende ADHS-Betroffene
als Erwachsene plötzlich keine ADHS mehr zu haben scheinen, wie
Versorgungsdaten von Krankenkassen zeigen [3]. PD Dr. Bernhard Kis,
Universitätsmedizin Göttingen, erläuterte bei einem Symposium im
Rahmen des diesjährigen Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft
für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde
in Berlin [4] diese Versorgungslücke und stellte eine Expertengruppe
vor, die sich seit 2017 schwerpunktmäßig mit den Transitionsproblemen
von heranwachsenden ADHS-Patienten beim Übergang ins Erwachsenenalter
widmet („Expertenrat ADHS“ [5]). Das Symposium „Transition ADHS – who
cares?!“ zeigte in den Stellungnahmen der vortragenden Kinder- und
Jugendpsychiater, Psychiater, Haus- und Allgemeinärzte sowie
ADHS-Patienten in der Transition ein großes Spektrum an
Einschätzungen und widersprüchlichen Meinungen zum Beispiel zu den
möglichen Ursachen und Lösungen des Versorgungsdefizits.

Trotz aller konträren Meinungen ist aber klar, so erläuterte Kis,
dass die Transitions-Versorgungslücke ganz wesentlich ein
Kommunikationsproblem zwischen den Arztgruppen ist, die
ADHS-Patienten behandeln. Um dieses zu verringern, hat der
Expertenrat ADHS zwei Informationsbögen entwickelt. Sie werden
jeweils vom Vorbehandler mit zur Weiterbehandlung wichtigen
Informationen ausgefüllt und zur reibungslosen Überleitung
adoleszenter ADHS-Patienten an den Weiterbehandler übermittelt
(„Transitionsbögen“, siehe Website der Gruppe [5]). Andere Ursachen
für Versorgungsdefizite während der Transition sind eine
unzureichende Fort- und Weiterbildung zu ADHS bei potentiellen
Weiterbehandlern, mangelhafte Transitions-Strukturen oder das Fehlen
notwendiger Therapieangebote (z. B. regelhaft durchgeführtes
Coaching). Kis äußerte jedoch die Hoffnung, dass zukünftig nicht nur
formale Grundlagen zur ADHS-Behandlung optimiert werden (wie z. B.
die gerade publizierte neue ADHS-S3 Leitlinie zeigt [6]), sondern
dass sich auch bei der praktischen Umsetzung mehr tun wird und sich
so die beschriebenen Versorgungslücken schließen lassen.

Viele ADHS-Patienten haben mit 18 ihre Behandlung bereits
abgebrochen

Auf erhebliche Wissensdefizite, wie Transition gut gelingen kann,
machte der Psychiater Dr. Daniel Alvarez-Fischer, Universität zu
Lübeck, aufmerksam. So sei bemerkenswert, dass viele ADHS Patienten
die Behandlung zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr beenden würden und
gar nicht mehr beim Kinder- und Jugendpsychiater in Behandlung sind,
wenn sie 18 werden. Die Gründe für den – vorzeitigen – Abbruch der
Behandlung seien wissenschaftlich jedoch nicht eindeutig belegt. Eine
Studie aus jüngster Zeit stelle immerhin fest, dass es möglicherweise
– bei noch fehlenden Selbstmanagementfähigkeiten – oftmals zu einem
zu abrupten Übergang ins Erwachsenenalter komme. Auch falsche
Krankheits-Vorstellungen, subjektiv erhöhter Erwartungsdruck
hinsichtlich Schule oder Ausbildungsplatz, Stigmatisierungen oder
auch Nebenwirkungen der Medikation führten häufig zu einem
freiwilligen Therapieabbruch. Andere Gründe seien der Gruppendruck,
vor allem bzgl. der Medikation, und eine fehlende soziale
Unterstützung [7]. In Hinsicht auf das oft zu beobachtende Defizit
bei notwendigen Fertigkeiten von ADHS-Patienten, stelle sich die
Frage, wann und durch wen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen so
unterstützt werden können, dass die Transition besser gelingt. Auch
hierbei seien geeignete Studien notwendig, um die Wissenslücken zu
schließen. Ein Modell für den Übergang bei chronischen, nicht
psychischen Erkrankungen, z. B. Diabetes mellitus Typ I oder
Epilepsie, stellt beispielsweise das „Berliner TransitionsProgramm
(BTP)“ dar, bei dem persönliche Fallmanager („Coaches“) mit den
Patienten zusammen die vielfältigen Probleme der Transition zu
bewältigen versuchen [8].

Transition nur gemeinsam erfolgreich

Der Psychiater Dr. Christian Konkol, Bad Salzuflen, sieht hingegen
eine gelungene Transition in Kooperation als einzig angemessenen,
gangbaren Weg bei der Versorgung von heranwachsenden ADHS-Patienten.
Wenn da nicht wesentliche Probleme wären, die eine Transition
behindern: Beispielsweise die Tatsache, dass ADHS-Patienten oftmals
kaum Termine bei Psychiatern bekommen. Und diese dann nicht die
notwendige Zeit haben, auf die individuellen Probleme so einzugehen,
wie es ADHS-Patienten von dem intensiven, verständnisvollen und
vertrauten Umgang mit ihrem Kinder- und Jugendpsychiater her kennen.
Zudem fehle vielen Psychiatern schlichtweg die notwendige
Qualifikation, um ADHS zu diagnostizieren und zu behandeln. Daneben
gibt es erkrankungsassoziierte Probleme bei den Patienten, z. B. ein
Mangel an notwendiger Reife, um sich in die Abläufe der
Erwachsenenpsychiatrie angemessen einfügen zu können. Deshalb, so
betonte auch Konkol, ist Coaching ein wichtiges Element bei der
Versorgung von ADHS-Patienten. Dies zeige zudem den grundsätzlich
bedeutsamen Weg im Umgang mit erwachsen werdenden ADHS-Patienten auf:
Nämlich neben der medizinisch-medikamentösen Therapie eine
psychosoziale Begleitung der Patienten in das Erwachsenenalter hinein
zu garantieren. Allerdings seien solche Modelle wie das Berliner
Transitionsmodell flächendeckend in absehbarer Zeit kaum umsetzbar.
Umso wichtiger für das Gelingen von Transition sei die Zusammenarbeit
von Kinder- und Jugendpsychiatern mit den nachbehandelnden
Psychiatern

Viele ADHS-Patienten finden keine weiterbehandelnden Psychiater

Ohne Frage, so bestätigte der Kinder- und Jugendmediziner Dr.
Jürgen Fleischmann, Sinzig, fallen zahlreiche ADHS-Patienten schon in
der Pubertät aus der Versorgung, was die beteiligten Fachgruppen auch
thematisieren. Bei der Transitionsproblematik gehe es aber um jene
Patienten, die tatsächlich bis zum 18. Lebensjahr bei Pädiatern oder
bis zum 21. Lebensjahr bei Kinder- und Jugendpsychiatern geblieben
sind, die von deren Therapie profitiert haben und für die dann kaum
jemand da ist, der sie weiterbehandelt. Für dieses brennende
Versorgungsproblem der fehlenden Weiterbehandlung müssten dringend
Lösungen geschaffen werden. Es ginge nicht an, dass zahlreiche
erwachsen gewordene Patienten keinen Weiterbehandler finden und
deshalb in einer für Beruf bzw. Studium entscheidenden Lebensphase
scheitern. Hier ist es eine Frage der ärztlichen Ethik, dass die
Kinder- und Jugendbehandler diese Patienten weiter betreuen bis ein
Arzt für Erwachsene sie übernimmt. Genau dies berichtete bei dem
Symposium auch ein 21-jähriger ADHS-Patient, der – weil er lange
keinen Weiterbehandler finden konnte – seinen bisherigen Kinder- und
Jugendpsychiater hunderte Kilometer entfernt um die notwendige
Weiterbehandlung bitten musste. Selbst in einer Großstadt wie Berlin
dann einen behandlungsbereiten Psychiater zu finden, sei einer
Odyssee gleichgekommen.

Psychiater müssen die Existenz von ADHS anerkennen

Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Peter Greven,
Berlin, bestätigte im wesentlichen diese Transitions-Versorgungslücke
und ergänzte, dass viele der ADHS-Patienten, die mit 12 oder 13
Jahren ihre Therapie abbrechen über kurz oder lang wieder nach einer
Weiterbehandlung suchen. Einfach, weil dann mit 22 oder 23 Jahren
Probleme brennen würden, die nur mit einer angemessenen Behandlung zu
lösen sind. Und auch diese Patienten hätten das große Problem,
weiterbehandelnde Psychiater zu finden. Aus Grevens Sicht sind mehr
niedergelassene Psychiater notwendig, die bereit sind, sich mit dem
Krankheitsbild auseinandersetzen, die anerkennen, dass es ADHS
überhaupt gibt und die deshalb motiviert sind, ADHS-Patienten weiter
zu behandeln. Die Zusammenarbeit mit den vergleichsweise wenigen,
proaktiv eingestellten Fachärzten in Berlin, so berichtete Greven,
funktioniert hervorragend und die Transition von ADHS-Patienten
verläuft meist gut. Aber es seien insgesamt eben viel zu wenige
Erwachsenenbehandler. Greven betonte wie andere Referenten auch, dass
die Behandlung von motivierten ADHS-Patienten eine ärztlich sehr
befriedigende Arbeit ist, da man oft deutlich mehr Erfolge hat als
bei anderen psychiatrischen Störungsbildern.

Keine Lösung ohne Haus- und Allgemeinärzte möglich

Der hausärztlich tätige Internist Dr. Hans-Heiner Decker,
Arnsberg, legte in seinem Diskussionsbeitrag den Finger in die Wunde
der ADHS-Behandlung: Bei einer Häufigkeit von etwa 4% in der
Bevölkerung sei ADHS eine Volkskrankheit. Und wenn sich von rund
10.000 Fachärzten bei dem DGPPN-Kongress nur eine Handvoll überhaupt
für das Problem ADHS-Transition interessiere, sei die
Weiterbehandlung nur zu garantieren, wenn andere Fachärzte mit
einbezogen werden – allen voran Haus- und Allgemeinärzte. Die wenigen
Hausärzte, deren Schwerpunkt bereits jetzt die Behandlung von ADHS
ist, zeigten sehr gut, dass dies möglich und eine wirksame Lösung des
Problems ist (wenn denn genug Haus- und Allgemeinärzte motiviert
werden können). Greven verwies ergänzend auf Staaten wie Kanada, wo
Hausärzte proaktiv und von den Universitäten geschult in die
Versorgung von ADHS-Patienten mit einbezogen werden. Der Expertenrat
ADHS schätze die Sachlage ähnlich ein und habe auch ein mit ADHS sehr
erfahrenes hausärztliches Mitglied.

Quellen-Angaben und weitere Informationen:
https://www.expertenrat-adhs.de/presse/

Pressekontakt:
Rainer H. Bubenzer
Expertenrat ADHS
Telefon: 030 / 5770 4890
Fax: 030 / 80613680
bubenzer@expertenrat-adhs.de

Original-Content von: Expertenrat ADHS, übermittelt durch news aktuell

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