(Stuttgart/Reutlingen) – Das Start-up Rehago aus Reutlingen hat ein kostengünstiges Trainingssystem für halbseitig gelähmte Schlaganfallpatienten entwickelt. Virtual-Reality-Spiele sollen als Unterstützung der herkömmlichen Ergo- und Physiotherapien dazu beitragen, Nerven neu zu vernetzen und motorische Defizite zu kompensieren. Das System aus VR-Brille, Smartphone und Controller kann in Kooperation mit dem Therapeuten unkompliziert beim Patienten zu Hause oder bald auch in der Klinik angewendet werden.
Ein Schlaganfall kommt meist völlig unerwartet und die Auswirkungen stellen den Patienten und seine Angehörigen vor große Herausforderungen. Durch die plötzliche Störung der Blutversorgung im Gehirn fallen Funktionen des Zentralnervensystems aus und beeinträchtigen unter anderem die Motorik; typisch ist die halbseitige Lähmung. Geschätzt trifft es allein in Deutschland etwa 270.000 Menschen jährlich, der Schlaganfall gilt als eine der häufigsten Ursachen für Behinderungen.
Längst ist bekannt, dass durch frühzeitige Therapien, die motorischen Defizite erfolgreich aufgeholt oder zumindest gemildert werden können. In der Regel beginnen die Rehabilitationsmaßnahmen daher noch im Krankenhaus oder der Rehaklinik und werden später ambulant fortgesetzt, meist mithilfe von Therapeuten, die mit den Patienten zu Hause üben. „Medizinisch sinnvoll wäre es, täglich zu trainieren“, erklärt Philipp Zajac, CEO der Rehago. „Aber viele Patienten schaffen die Übungen ohne die Anleitung durch einen Therapeuten nicht. Diese aber können den Patienten oft nur einmal in der Woche aufsuchen.“
Genau hier setzt das Start-up Rehago aus der BioRegion STERN an: Das Team aus Informatikern und Spieleentwicklern hat eine Plattform zur Therapieunterstützung von Schlaganfallpatienten entwickelt, die Spiele für ein virtuelles Trainingprogramm anbietet. Dazu haben sie sich von einem Advisory Board aus Therapeuten und Medizinern beraten lassen, darunter Prof. Dr. Peter Flachenecker, Chefarzt des Neurologischen Rehabilitationszentrums Quellenhof in Bad Wildbad: „Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass durch gezielte Reha-Maßnahmen nach einer Hirnschädigung wie beispielsweise einem Schlaganfall Nervenzellen neu vernetzt und betroffene Gehirnregionen aktiviert beziehungsweise deren Funktion von anderen Regionen übernommen werden können. Ein spielerisches Trainingsprogramm, das zu regelmäßigen Übungen anregt, kann dabei sehr hilfreich sein.“
Das System kann in Kooperation mit dem Therapeuten beim Patienten zu Hause oder – nach Abschluss der bevorstehenden CE-Zerfizierung – auch in der Klinik angewendet werden. Die Patienten benötigen lediglich eine VR-Brille, die mit Hilfe eines Smartphones dreidimensionale Seheindrücke vermitteln kann, sowie einen Controller für die Hand. Eine App auf dem Smartphone bietet den Zugang zu verschiedenen Spielen, die die Übungen für die betroffenen Körperteile optimal unterstützen. Rehago setzt dabei auch auf die Spiegeltherapie, bei der Patienten – eigentlich mit Hilfe eines Spiegels – die gelähmte Seite „bewegen“. Philipp Zajac, der sich auch im Rahmen seiner Masterarbeit mit dem Zusammenhang von Bewegung und Begreifen im Gehirn beschäftigt hat, erklärt: „Im Spiel verwendet der Patient zwar die nicht gelähmte Hand, um etwas zu greifen, aber die Brille vermittelt ihm den Eindruck – und scheinbar das Gefühl -, dass er mit der gelähmten Hand agiert.“
Die Spiele sind ganz auf die Bedürfnisse der meist älteren Patienten zugeschnitten, Action-orientierte „Ballerspiele“ oder komplexe Simulationsspiele stehen daher nicht zur Auswahl; dafür einfache Anwendungen wie „Memory“. „Der Patient wird auf unterhaltsame Weise durch eine personalisierte virtuelle Umgebung geführt, in der er seinen gelähmten Arm scheinbar wieder bewegen kann. Die visuelle Rückmeldung der ausgeführten Aktion im VR-Spiel führt zu einer Reorganisation des Hirnnetzwerks“, erläutert Zajac. Rehago sieht sich dabei nicht als Ersatz des menschlichen Therapeuten, der nach wie vor Bewegungen des Patienten anleiten muss, sondern als dessen Ergänzung. Ergotherapeuten, mit denen das Unternehmen bereits zusammenarbeitet, haben dies bestätigt: „Der Einsatz von Virtual Reality im Reha-Bereich, beispielsweise bei Schlaganfallpatienten, bietet großes Potential in der unterstützenden Therapie“, ist Zajac überzeugt. „Insbesondere motiviert es die Patienten eigenständig und regelmäßig zu trainieren, da das Üben mit der VR-Brille einfach auch Spaß macht.“
„Rehago ist ein gutes Beispiel für das Zusammenwachsen von einander zunächst fremden Branchen: der Medizintechnik und der Computerspiele-Branche“, freut sich BioRegio STERN-Geschäftsführer Dr. Klaus Eichenberg. „Ich bin überzeugt, dass die Idee eines VR-Systems mit Trainingsspielen für halbseitig gelähmte Menschen nicht nur medizinische Fachkreise begeistert, sondern auch wirtschaftlich viel Potenzial hat.“ Das Start-up wird zunächst in Büro-Containern im Rahmen des Entrepreneurship an der Hochschule Reutlingen einziehen.
Noch vor der eigentlichen Unternehmensgründung im August 2018 hatte das Team den mit 50.000 Euro dotierten Samsung Ideenwettbewerb „Life“s a Pitch“ 2018 sowie den Ideenwettbewerb für mobile Lösungen „MFG BW goes MOBILE“, der weitere 10.000 Euro Startkapital einbrachte, gewonnen. Für die Zukunft von Rehago schwebt Philipp Zajac eine komplett neue Vertriebsplattform vor, die nicht nur die Kosten für die Rehabilitation senken, sondern auch für Spieleentwickler ganz neue Märkte eröffnen soll.