Graz, am 22. März 2013 ? Kommunikation und Mobilität sind zwei der wohl einflussreichsten und sich am schnellsten verändernden Technologie-Bereiche des täglichen Lebens. Das Grazer Forschungszentrum VIRTUAL VEHICLE arbeitet daran, durch den gezielten Schulterschluss zwischen Kommunikation und Mobilität ein möglichst intelligentes Energiemanagement zu entwickeln und den Verbrauch von Energie zu reduzieren. Sogenanntes „Comprehensive Energy Management“ lässt zukünftig E-Fahrzeuge mit der Umgebung kommunizieren. Resultate der Entwicklung sind neben einem optimierten Energiemanagement auch mehr Sicherheit im Straßenverkehr, eine höhere Reichweite und ein verbesserter Komfort der Fahrzeuge.
„Wir bewegen uns jetzt schon in einer Cloud“, beschreibt Dr. Daniel Watzenig, Bereichsleiter am Grazer VIRTUAL VEHICLE für das Entwicklungsgebiet „Electrics, Electronics und Software“, die heutige Welt der Informationen. Fahrten von A nach B werden bereits heute durch GPS-Daten, durch Hinweise zu Fahrtziel und Streckenverlauf, oder durch Verkehrs-, Wetter- und Fahrbahnmeldungen zumeist bequemer und sicherer. „Bisher jedoch waren diese Informationen entweder nur vereinzelt abrufbar oder haben in einer regelrechten Informationsflut den Fahrer überrannt.“ so Watzenig. Es ist daher notwendig, einerseits so viele Informationen wie möglich von außen in das Fahrzeug zu holen. Andererseits ist es jedoch auch notwendig, diese Informationen zu filtern, nach ihrer Relevanz zu sortieren und im Fahrzeug dem Einsatzzweck entsprechend zu verwerten. Passend für den Fahrer aufbereitet, sind die Informationen ein enormer Mehrwert in der Nutzung intelligenter Fahrzeuge.
Information Harvesting
Die Forscher des Grazer VIRTUAL VEHICLE haben dafür einen neuen Begriff geprägt, das sogenannte „Information Harvesting“. Die begrenzte Rechenpower in Fahrzeugen reicht heute nicht aus, um alle notwendigen Informationen auf einmal lokal auszuwerten. Daher werden nur maßgeschneiderte Informationspakete an das Fahrzeug bereitgestellt, die für den jeweiligen Anwendungs-Fall relevant sind. „Es geht dabei nicht darum, zentral nur Daten herunterzuladen, wie es etwa schon bei klassischen Cloud-Lösungen für Smartphone und Laptops der Fall ist – Dropbox oder Google Drive sind Beispiele dafür. Wichtig ist darüber hinaus der Zugriff auf andere Datenquellen oder externe Server. Informations-Quellen können das Internet sein, sowie proprietäre Informationen wie GPS, als auch natürlich fahrzeugspezifische Informationen zu Verkehrsrouten, Fahrverhalten oder momentanem Aufenthaltsort“, erklärt der Projekt-Researcher am VIRTUAL VEHICLE Wenpu Lu.
Energieverbraucher einzeln betrachten und im Fahrzeug koordinieren
Herkömmliche Fahrzeug-Kommunikations-Systeme waren vorwiegend für das Infotainment zuständig. Nun wollen die Entwickler die interne und externe Fahrzeugkommunikation noch stärker für das Energiemanagement nutzen. Durch die Betrachtung des Gesamtfahrzeuges, sowie dessen Umgebung sollte der Energieverbrauch von Elektrofahrzeugen reduziert werden, um an Reichweite zu gewinnen. Dabei werden die zahlreichen Energieverbraucher im Fahrzeug isoliert betrachtet und koordiniert. Sofern ein Verbraucher nicht vonnöten ist, wird dieser abgeschaltet. Eines der vielen Beispiele ist die Zentralverriegelung, welche nur beim Auf- und Zusperren des Fahrzeugs zum Einsatz kommt und dessen Energieverbrauch bei der Fahrt deutlich reduziert werden kann. Watzenig rechnet vor: „Durch den normalen Betrieb der vielen Nebenaggregate wie beispielsweise Armaturen- und Fahrzeugbeleuchtung, Regelfunktionen oder Ruheströme verliert man bei einer Fahrt über 100 Kilometer rund 20 km an Reichweite. Rechnet man die mit 4 kWh betriebene Klimaanlage mit ein, sind es sogar 30 km weniger Reichweite.“ Eine Reduktion des Energieverbrauchs in einem Bereich von rund 15 Prozent wird als realistisch eingestuft.
Neben dem internen Energiemanagement werden auch Fahrzeug-externe Daten berücksichtigt. Wenn man zum Beispiel vom Land in die Stadt fährt, sollte die Batterie gut aufgeladen sein und das Energiemanagement muss im Vorfeld möglichst viel Energie zur Verfügung stellen. Die Cloud berücksichtigt ebenso aktuelle Staumeldungen, wodurch eine Alternativroute gefunden werden kann. Oder sie erkennt frühzeitig Temperaturunterschiede auf der Strecke. Watzenig: „Fahre ich durch den Bosrucktunnel, werden Wetterdaten analysiert, Systeme im Fahrzeug vorkonditioniert und damit das Fahrzeug-Fahrverhalten gezielt im Vorhinein adaptiert.“ Ein anderes Beispiel für Information Harvesting sind vorrausschauende aktive Verkehrssicherheitssysteme: „Wenn ein Fußgänger plötzlich vor meinem fahrenden Fahrzeug auftaucht, müssen Pre-Collission-Warning-Systeme rechtzeitig greifen, bevor es zu einem Crash kommt“, erklärt Watzenig weitere Forschungsziele des VIRTUAL VEHICLE im Bereich intelligenter Fahrzeuge. Know-how aus Österreich also, welches noch vielfältige Verbesserungen für ein intelligentes, umweltfreundliches und sicheres Fahren ermöglichen wird.?
Mehr Fahrspaß und verbesserte Elektrofahrzeuge mit E-VECTOORC
Unter dem ungewöhnlichen Kürzel E-VECTOORC verbirgt sich ein umfassendes EU-Forschungsprojekt, welches Elektrofahrzeuge sicherer und effizienter werden lässt und nebenbei auch noch den Fahrspaß steigert. Das Grazer Forschungszentrum VIRTUAL VEHICLE bringt in diesem Projekt vor allem seine weitreichende Expertise im Bereich der verknüpften Simulation ein. Das europäische Projekt-Konsortium besteht aus renommierten Fahrzeugherstellern und Universitäten. Ziel der Forschung ist vor allem auch, die frühe Entwicklungsphase neuer Fahrzeugmodelle effizienter und schneller bewältigen zu können. Dies spart Kosten und wertvolle Zeit. Im konkreten Projekt werden nicht nur Straßenanwendungen verbessert, sondern auch Offroad-Fahrzeuge. Graz als Wiege der Allradtechnologie ist dafür sicher ein gut gewählter Standort.
Dass die Entwicklung eines elektrifizierten Fahrzeuges heute mehr bedeutet als „Verbrennungsmotor und Tank raus, E-Motor und Batterie rein“ ist der Industrie natürlich bewusst und mittlerweile auch dem Konsumenten klar. Die technologischen Besonderheiten und Vorteile kommen jedoch oft erst bei näherer Betrachtung zum Vorschein: „Durch das elektrifiziert angetriebene Fahrzeug ergeben sich viele konstruktionsbasierte Möglichkeiten, die bisher wenig bis gar nicht genutzt wurden“, so Josef Zehetner, der das Projekt E-VECTOORC (Electric-VEhicle Control of individual wheel Torque for On- and Off-Road Conditions) am VIRTUAL VEHICLE leitet. Das mit drei Millionen Euro geförderte Projekt beschäftigt sich mit einer individuellen und hochfrequenten Momentenregelung der eingebauten Elektromotoren für den Antrieb (das in der Projektbezeichnung gut versteckte „Torque“ bedeutet Drehmoment im Englischen). Vor allem die Sicherheit, der Komfort und der Fahrspaß der Fahrzeuge sollen unter Onroad- als auch Offroad-Bedingungen erhöht werden. Darüber hinaus werden auch grundlegend die Prozesse und Simulationen in einem frühen Stadium der Fahrzeugentwicklung für diesen sehr speziellen Bereich optimiert. Denn elektrifiziert angetriebene Fahrzeuge bringen einerseits beispielsweise für die Fahrdynamik zahlreiche Vorteile wie ein rasch verfügbares und relativ gleichbleibendes hohes Drehmoment mit sich. Andererseits besitzen Fahrzeuge mit elektrifizierten Antrieben aber auch Eigenheiten, welche in der Entwicklung möglichst früh berücksichtigt werden müssen. Vereinfacht ausgedrückt ist eine Entwicklung der Fahrdynamik von Fahrzeugen mit ähnlicher oder gleicher Optik von außen, aber mit verschiedenen Antrieben, verschiedener Leistung und verschiedenem Drehmoment im Inneren nicht „in einem Aufwasch“ zu bewältigen. Oftmals erhöht sich der Entwicklungsaufwand sogar enorm, was den Automobilbauern vor allem in den letzten Jahren bewusst wurde. Aus diesem Grund arbeiten Automobilhersteller wie Land Rover, Skoda und Jaguar mit dem VIRTUAL VEHICLE zusammen.
Weniger Energie verbrauchen, stärker beschleunigen und sicherer bremsen
Ebenfalls im Brennpunkt des Projektes stehen die Reduktion von Energieverbrauch und Bremsweg sowie eine bessere Beschleunigung. „Fahrdynamikregelung – wie ABS oder ESP – und Energiemanagement, das den gesamten Energiehaushalt im Fahrzeug steuert, waren in herkömmlichen PKWs bisher getrennt. Beim Elektrofahrzeug bietet es sich an, diese Systeme erstmals in einem zentralen Steuergerät zusammenführen. Wobei ABS, ESP oder Traktionskontrolle besser geregelt werden und ein kürzerer Bremsweg erreicht wird. Außerdem erzielen wir ein optimiertes Rekuperationsverhalten durch ein Einstellen der Drehzahl“, so Zehetner, der damit die Umwandlung von Bremsenergie in elektrische Energie meint. Ein anderes Fahrdynamikregelsystem ist das sogenannte „Torque-Vectoring“, das neben Fahrsicherheit auch den – nicht ganz unwesentlichen – Fahrspaß erheblich beeinflusst. Diese Entwicklung ist bei E-Fahrzeugen im Vergleich zu konventionellen Fahrzeugen jedoch deutlich unterschiedlich.
Mehr Fahrspaß und ein erhöhtes „Feeling“ durch Torque-Vectoring
Biegt ein Fahrzeug in eine Kurve, legen die äußeren Räder eine längere Strecke zurück als die Innenräder. Das Torque-Vectoring bei E-Fahrzeugen verteilt dabei gezielt individuell die unterschiedlichen Antriebsmomente auf die einzelnen Räder. Dies eröffnet vielfältige Verbesserungsmöglichkeiten für das Fahrverhalten, den Fahrspaß und die Sicherheit. Das Fahrzeug wird gezielt „eingelenkt“, stabilisiert und auf Spur gehalten. Am VIRTUAL VEHICLE stellt man sich in Bezug auf das E-Fahrzeug in der Entwicklung also die Frage, wie man das Fahrempfinden für den Lenker gestalten kann, um das gewohnte und gelernte Lenkverhalten eines marktüblichen Fahrzeuges zu erzielen und noch weiter zu verbessern. Denn die Vorteile des Elektro-Antriebes gilt es zu nutzen: „Er weist beim Beschleunigen eine um den Faktor zehn und beim Bremsen eine dreimal schnellere Reaktionszeit im Vergleich zu konventionellen Systemen auf'“, so Zehetner. Diese Vorteile und Eigenheiten müssen jedoch früh in der Entwicklung aussagekräftig simuliert und für das jeweilige Fahrzeug optimiert werden.
Optimieren in Echtzeit, testen am Prototyp mit vier E-Motoren
Wesentlich für den Erfolg der Arbeit und die Aussagekraft der Untersuchungen sind der Entwurf eines Echtzeitoptimierungsverfahrens sowie neuartige Ansätze zur Regelung der Fahrdynamiksysteme. Das gebündelte Know-how aus den unterschiedlichen Fachbereichen am VIRTUAL VEHICLE wie Mechanik sowie Elektrik, Elektronik & Software macht dies möglich. Der Fahrzeug-Prototyp wird nun bei Land Rover von einem auf vier E-Motoren umgebaut, um die einzelnen Entwicklungsziele überprüfen zu können: „Die Herausforderung bestand bisher im mühsamen und äußerst zeitintensiven Einstellen, Validieren und Verifizieren der Software-Parameter, die das Fahrverhalten des jeweiligen Fahrzeuges beziehungsweise Fahrzeugtyps bestimmen. Dies hat früher bis zu zwei Jahre in Anspruch genommen.“, so Zehetner. Zeit und Kosten in der Entwicklung, die nun optimiert werden können.
Ein System für unzählige Fahrzeugkonfigurationen
Durch die Simulation könnten die Entwicklungs-Parameter bald automatisch auf unterschiedliche Fahrzeuge individuell abgestimmt werden. Was einen bahnbrechenden Fortschritt darstellen würde ? eine frühzeitige parallele Entwicklung von Luxusklasse-Limousinen, Geländefahrzeugen und Fahrzeugen im breiten Massensegment wäre möglich. Egal, ob diese mit einem zentralen Elektroantrieb oder mit vier durch Elektromotoren angetriebene Räder ausgestattet sind. „Wir können durch unser Know-how frühzeitig herausfinden, welche Fahrzeugkonfigurationen Sinn machen und welche nicht“, verraten die Grazer Forscher. Durch das Versuchsfahrzeug und die Softwaredaten ist es möglich, die erzielten Projektergebnisse auf eine Vielzahl von Fahrzeugkategorien anzuwenden. So werden Entwicklungs- und Prüfzeiten, und auch der Bau teurer Prototypen und damit Kosten in der Fahrzeugentwicklung gespart.