Bonn/Brüssel – Die umstrittene EU-Verordnung über die Registrierung, Bewertung und Zulassung von Stoffen wird wahrscheinlich schon im kommenden Frühjahr in Kraft treten. Aufgrund zahlreicher Ungereimtheiten sind Startschwierigkeiten und volkswirtschaftliche Verluste programmiert. Am 27. Juni 2006 hat der Europäische Rat seine bereits vor Weihnachten 2005 skizzierten Gemeinsamen Standpunkt zur REACh-Verordnung in ausformulierter Form (http://register.consilium.europa.eu/pdf/de/06/st07/st07524.de06.pdf) angenommen und dem Europäischen Parlament für die Zweite Lesung unterbreitet. Diese wird im Herbst stattfinden. Da es vor allem über die Genehmigung problematischer Stoffe (CMR 1 und 2-, PBT- oder vPvB-Substanzen nach Anhang VII) noch Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Rat und dem Parlament gibt, werden die Fraktionen des EP versuchen, noch Veränderungen am Text der Verordnung durchzusetzen. Doch vermutlich wird eine deutliche Mehrheit der Parlamentarier nicht so lange auf Änderungswünschen beharren, dass nach der Zweiten Lesung ein Vermittlungsausschuss eingesetzt werden müsste. Denn dadurch würde sich die endgültige Verabschiedung der Verordnung um weitere 12 Wochen verzögern.
Da es sich bei REACh um das ambitionierteste Regulierungsvorhaben handelt, das jemals in Angriff genommen wurde, gibt es nun einen enormen politischen Druck, fünfeinhalb Jahre nach der Veröffentlichung des „Weissbuches zur Chemikalienpolitik“ durch die EU-Kommission endlich zu einer Einigung zu gelangen. Da haben auch die insbesondere bei kleinen und mittleren Unternehmen weiter bestehenden Zweifel an der Rechtfertigung und Durchführbarkeit wichtiger Bestimmungen der bis jetzt im Parlament und im Rat ausgehandelten Regelungen kaum noch Chancen, berücksichtigt zu werden. Der REACh-Zug ist abgefahren. Ob das inzwischen immerhin um einiges abgespeckte Regulierungsvorhaben auch zur Verbesserung des Umwelt- und Gesundheitsschutzes wird beitragen können, erscheint hingegen als wenig wahrscheinlich.
Finden EP und Rat noch vor Weihnachten einen Kompromiss, dann tritt die REACh-Verordnung schon im Frühjahr 2007 in Kraft. Ihre Umsetzung kann aber erst nach einem Jahr mit der Vorregistrierung der zirka 30.000 „Altstoffe“, die in Mengen von über einer Jahrestonne verwendet werden, beginnen, wenn die Europäische Chemikalienagentur (EChA) in Helsinki ihre Arbeit aufgenommen hat. Noch immer bestehen erhebliche Zweifel, ob es gelingen wird, für diese nun mit grossen Machtbefugnissen bei der Bewertung und Zulassung von Stoffen ausgestattete Behörde rechtzeitig genügend qualifiziertes Personal zu finden. Für die Vorregistrierung selbst stehen dann nur sechs Monate zur Verfügung. Für die junge Agentur und für das ganze REACh-System dürfte dieser knapp bemessene Zeitraum zur ersten grossen Belastungsprobe werden, auch wenn das Europäische Chemikalienbüro (ECB) am Joint Research Center der EU in Ispra/Italien inzwischen modernste Software erarbeitet hat, mit deren Hilfe Vorregistrierung und Registrierung in standardisierter Form über das Internet abgewickelt werden können.
Zur Erinnerung: Am 17. November 2005 hatten sich unterschiedliche Koalitionen im EP einerseits für gewisse Erleichterungen bei der Registrierung kleinvolumiger Stoffe, andererseits aber für eine Erschwerung der Zulassung genehmigungspflichtiger Substanzen und eine Substitutionspflicht für als problematisch erachtete Substanzen ausgesprochen. Der Europäische Rat hat am 13. Dezember 2005 diese Verschärfung der Zulassungsbedingungen übernommen und gleichzeitig die vom EP vorgeschlagenen Erleichterungen der Registrierung grösstenteils wieder rückgängig gemacht.
Die Vorregistrierung von Phase-in-Substanzen erfordert nach dem Votum des EP lediglich die Angabe des Namens und der Adresse des Herstellers (oder eines dritten), der Bezeichnung und der EINECS- beziehungsweise CAS-Nummer der Substanz, eine kurze Beschreibung der bekannten Verwendungen und Expositionskategorien sowie eine Liste der Verwendungen, die registriert werden sollen. Der Rat fordert zusätzlich Informationen über vorliegende quantitative Struktur-Wirkungs-Abschätzungen (QSAR) und die Angabe des voraussichtlichen Zeitpunktes der Registrierung. Firmen, die das Zeitfenster für die Vorregistrierung verpassen und die Verwendung REACh unterworfener Stoffe nicht anmelden, verlieren die „Altstoffen“ zugestandene Vorzugsbehandlung und müssen ihre Roh- und Hilfsstoffe, sobald ihr Gesamtbedarf eine Tonne übersteigt, wie Neustoffe registrieren lassen. 18 Monate nach Beendigung der Vorregistrierung veröffentlicht die EChA alle in ihrer Datenbank registrierten Angaben im Internet.
Die Registrierung beginnt parallel zur Vorregistrierung mit den „Grossstoffen“, deren Jahresproduktion 1.000 Tonnen überschreitet, sowie den als „prioritär“ eingestuften kleinvolumigen Stoffen. Diese soll nach drei Jahren abgeschlossen sein. In den folgenden drei Jahren stehen die Stoffe mit einer Jahresproduktion zwischen 100 und 1000 Tonnen zur Registrierung an. Für die Registrierung der Stoffe, die nur in der Grössenordnung zwischen einer und 100 Jahrestonnen hergestellt oder importiert werden, stehen weitere fünf Jahre zur Verfügung. Vor allem mittelständische Unternehmen, die kleinvolumige Spezialitäten und Zubereitungen anbieten, haben also noch bis Mitte 2018, um die Verordnung umzusetzen. Wie zu hören ist, betrachten etliche von ihnen die verbleibenden elf Jahre als Gnadenfrist vor der Geschäftsaufgabe, weil sie sich schlecht vorstellen können, mit ihren bescheidenen finanziellen und personellen Ressourcen den neuen Anforderungen nachkommen zu können.
Das gilt zum Beispiel für die Verpflichtung der Mitarbeit in Substance Information Exchange Foren (SIEF), die vor allem dazu dienen sollen, die Zahl von Tierversuchen zu minimieren und zu einer einheitlichen Klassifizierung und Etikettierung von Stoffen zu gelangen. Die SIEF-Teilnehmer müssen in den 20 Monaten nach dem Inkrafttreten der Verordnung Informationen über bereits vorhandene Stoffuntersuchungen austauschen, um erkennen zu können, welche Studien noch benötigt werden, um den REACh-Anforderungen zu genügen. Studien auf der Basis von Versuchen mit Wirbeltieren sollen allen SIEF-Teilnehmern auf Anforderung zur Verfügung gestellt werden. Deren Eigentümern bleiben nach einer an sie gerichteten Anfrage nur zwei Wochen, um die Kosten ihrer Studie zu belegen. Die Teilung der Kosten innerhalb eines SIEF soll „fair, transparent und nicht diskriminierend“ erfolgen. Nach den Vorstellungen des Rates soll die EChA sogar die unentgeltliche Herausgabe von Testdaten verlangen können, wenn im SIEF keine finanzielle Einigung erzielt wird. In der Praxis dürfte, wie die Umsetzung der bereits in Kraft getretenen EU-Biozidrichtlinie zeigt, die Kostenteilung je Kopf und nicht nach Umsatz zum Regelfall werden, was umsatzschwache SIEF-Teilnehmer aus dem Mittelstand benachteiligen würde. Neue Tests, die Versuche an Wirbeltieren erfordern, müssen gemeinsam durchgeführt werden. Bei Tests mit wirbellosen Tieren sieht das EP, im Unterschied zum Rat, Opt-Out-Klauseln vor.
Die für die Registrierung von Stoffverwendungen notwendigen Informationen müssen in technischen Dossiers zusammengefasst werden. Bei den etwa 20.000 kleinvolumigen Altstoffen zwischen einer und 10 Jahrestonnen sind detaillierte Angaben über die akute Toxizität, die biologische Abbaubarkeit und so weiter nur dann nötig, wenn sie als „prioritär“ beziehungsweise „of very high concern“ (VHC) eingestuft werden, das heisst wenn die begründete Vermutung besteht, dass es sich dabei um CMR 1- oder 2-, PBT- oder vPvB-Substanzen oder „vergleichbar Besorgnis erregende Stoffe“ handelt. Soweit bereits vorhanden, sollen die Firmen solche Daten aber auch für die übrigen Stoffe vorlegen. Ansonsten genügen Angaben über die physikalisch-chemischen Eigenschaften (spezifisches Gewicht, Schmelzpunkt, Dampfdruck, Flammpunkt etc.). Diese Daten liegen in Deutschland aufgrund einer schon 1997 vom VCI gegenüber dem Bundesumweltministerium (BMU) abgegebenen Selbstverpflichtung bereits vor. Auf welche Weise sie dem Mittelstand zugänglich gemacht werden, wird noch diskutiert.
Bei Stoffen, deren Produktion beziehungsweise Import 10 Jahrestonnen übersteigt, müssen zusätzlich Daten über die akute und Algentoxizität, die biologische Abbaubarkeit und weitere Angaben nach Anhang VI der Verordnung beschafft beziehungsweise generiert werden. Diese Daten bilden die Grundlage für die ab dieser Stufe vorgeschriebenen Stoffsicherheitsberichte (CSR). Für Stoffe ab 100 bzw. 1000 Jahrestonnen gelten zusätzlich die im Anhang VII und in den Anhängen VII und VIII aufgelisteten aufwändigeren Testanforderungen wie 28- beziehungsweise 90-Tage-Tests usw. Das deutsche Bundeswirtschaftsministerium hält sich zugute, durchgesetzt zu haben, dass nur ein Teil der vorgesehenen Tests den aufwändigen GLP-Standards der OECD genügen muss.
Um die Kosten zu begrenzen und die Zahl der Tierversuche gering zu halten, sind Hersteller, Importeure und Verarbeiter, die die gleiche Stoffverwendung registrieren lassen wollen, nach dem Prinzip „One Substance, One Registration“ (OSOR) verpflichtet, sich zu Konsortien zusammenzuschiessen. Es gibt aber die Möglichkeit eines „Opt-out“ – und zwar, wenn eine gemeinsame Registrierung für einzelne Konsortienteilnehmer unverhältnismässig kostspielig wäre, wenn sie Geschäftsgeheimnisse preisgeben müssten oder wenn sie sich mit dem Konsortienführer nicht über die Auswahl kritischer Informationen einigen können. Hier liegt ein grosses Konfliktpotential, zumal ungeklärt ist, wie Unternehmen zu behandeln sind, die sich zu einem späteren Zeitpunkt bereits arbeitenden Konsortien anschliessen möchten.
Es ist zu befürchten, dass etliche kleinvolumige, aber schwer ersetzbare Additive und Hilfsstoffe der Kunststoff-, Textil-, Leder- oder Papierindustrie völlig vom Markt verschwinden werden, weil sich ihre Hersteller den grossen Aufwand für die Registrierung nicht leisten können. Wie viele Stoffe das sein werden, vermag aber derzeit niemand realistisch abzuschätzen. Erhardt Fiebiger, der Geschäftsführer der Zschimmer & Schwarz GmbH & Co KG (Lahnstein) hat in der CR 3/2006 an Hand konkreter Beispiele auf diese Gefahr hingewiesen. Auf der diesjährigen Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft PVC und Umwelt (AgPU) im Juni in Bonn berichtete Dr. Gabriele Brenner von der Konrad Hornschuch AG (Weissbach), einem bekannten mittelständischen Hersteller von Selbstklebefolien (d-c-fix) und Kunstleder (skai), erste Vorprodukte würden der Firma unter Hinweis auf REACh bereits nicht mehr geliefert. Da die Suche nach Alternativen aber Jahre in Anspruch nehmen kann, ist nicht auszuschliessen, dass in naher Zukunft verschiedene kleinvolumige und daher unauffällige Additive und Hilfsstoffe auf Grau- oder Schwarzmärkten gehandelt werden.
Deshalb ist die Einbeziehung der Verarbeiter (downstream users) in den Prozess der Expositionsabschätzung, Risikobewertung und die Abfassung der CSR besonders konfliktträchtig. Die Konsortienführer können kaum Interesse daran haben, in den CSR auch in ihren Augen „nebensächliche“ und unverhältnismässig teure Stoffanwendungen zu berücksichtigen. Werden REACh-pflichtige Stoffe verwendet, die nicht im Expositionsszenario berücksichtigt wurden, das dem CSR zugrunde liegt, müssen die Anwender eigens einen CSR erstellen, sofern ihr Einsatz eine Jahrestonne übersteigt. Andererseits bekommen Hersteller oder Importeure von Stoffen von ihren Kunden oft keine Auskunft über deren Verwendung. So berichtete zum Beispiel ein Vertreter der Henkel KGaA auf einer von Ciba Expert Services (Basel) gesponserten Konferenz über REACh und die Verpackungsindustrie Anfang Juli in Madrid, dass Anwender von Produkten der Klebstoffsparte Fragebögen über deren vorgesehene Verwendung oft nicht beantworten. Durch die Einführung breiterer Expositionskategorien, die schon vor Jahren vom deutschen Chemieverband und vom Freiburger Öko-Institut vorgeschlagen worden war (siehe CR 1/2003), wurde dieser Konfliktherd nur teilweise entschärft.
An solchen Beispielen zeigt sich, dass wichtige Informationen oft nicht dort verfügbar sind, wo man sie braucht. Darauf weist auch in aller Deutlichkeit der Abschlussbericht des strategischen Partnerschaftsprojekts PRODUCE (Piloting REACH On Downstream Use and Communication in Europe) hin. Auf Anregung des Unilever-Konzerns wurde PRODUCE (www.producepartnership.be ) gestartet, um zu testen, ob die Kommunikation zwischen den Chemikalienherstellern beziehungsweise -importeuren und den Herstellern von Produkten für den Endverbrauch funktioniert. Partner des Projekts waren drei Generaldirektionen der EU-Kommission, vier EU-Mitgliedsstaaten sowie einige Lieferanten und Anwender von Chemikalien. Beobachtet von einer Multi-Stakeholder-Steuerungsgruppe unter Vorsitz des niederländischen Grünen Europa-Abgeordneten Alexander de Roo, führten die Partner des Projekts ein realitätsnahes Planspiel durch. Die Bilanz de Roos, eines glühenden Verfechters von REACh, fiel ernüchternd aus: „REACH is extremely time-consuming and hard to grasp in its entirety but it is not unworkable.” Insbesondere weist der Abschlussbericht von PRODUCE darauf hin, dass die Verarbeiter in der Regel nicht das Gesamtvolumen eines von ihnen verwendeten Stoffes kennen können und daher gar nicht wissen, ob er im konkreten Fall REACh unterworfen ist. Charles Laroche, Vice President von Unilever (Brüssel) erwartet deshalb einen schwierigen Start von REACh: „Consumer trust will get worse before getting better“, erklärte er auf der Konferenz über RWACh und die Verpackungsindustrie in Madrid.
Auch der Umgang mit Geschäftsgeheimnissen wurde im Rahmen des PRODUCE-Projektes kritisch eingeschätzt. Das gelte insbesondere für Bestandteile von Zubereitungen. Für deren adäquate Behandlung in Expositionsszenarios und Risikoabschätzungen gebe es keinen Königsweg. Der Bericht verweist hier auf die Möglichkeiten, die Branchenverbände der Wirtschaft bzw. Wertschöpfungsketten übergreifende Initiativen wie HERA bieten. Ob es dadurch gelingen wird, den Ängsten kleinerer Unternehmen vor Know-how-Klau die Grundlage zu entziehen, bleibt dahin gestellt. Sobald Stoff- und Produktdaten erst einmal im Internet stehen, scheint es extrem schwer, Neugierige davon abzuhalten, ihre Nase mithilfe von Suchmaschinen tiefer in die Materie zu stecken. Das räumte auch Dr. Uwe Lahl, der im deutschen Bundes-Umweltministerium (BMU) für REACh zuständig ist, in einem im März vom VCI und der IG BCE in Berlin veranstalteten Workshop der Reihe „Gesprächsstoffe“ ein.
Wegen der Marktmacht grosser Konsumgüter-Anbieter wie Procter & Gamble oder Unilever besteht überdies die reale Gefahr, dass mittelständische Unternehmen ihre Rolle als eigenständige Innovationsmotoren verlieren und zu passiven Auftragnehmern grosser Konzerne werden – sofern sie nicht von billigeren Konkurrenten aus Fernost ganz aus dem Markt gedrängt werden. Nur grosse Konsumgüterkonzerne wären dann noch in der Lage, durch ihren kurzen Draht zur EU-Kommission bzw. ihr Gewicht in Stakeholder-Foren oder Steuerungsgruppen Neuerungen durchsetzen zu können beziehungsweise als politisch korrekt anerkannt zu bekommen. Immerhin bringt REACh denen, die es sich in Zukunft noch leisten können, neue Stoffe zu entwickeln und auf den Markt zu bringen, deutliche Vorteile gegenüber bisherigen Regelungen. Darauf wies Sue Anderson, die Chefin von Ciba Expert Services, auf der erwähnten Konferenz in Madrid hin. Vor allem werde sich die Zeitspanne bis zur Markteinführung neuer Stoffe deutlich verkürzen und Neuerungen würden durch eine fünfjährige Freistellung (mit Verlängerungsmöglichkeit) von der Registrierungspflicht ermutigt.
Die Begünstigung grosser Marktteilnehmer dürfte noch deutlich verstärkt werden durch die Verschärfung der Stoffzulassungs-Bedingungen, für die das EP sich am 17. November 2005 ausgesprochen hat. Nach der vom EP verabschiedeten Version des Artikels 52 der REACh-Verordnung sollen VHC-Stoffe nur noch dann zugelassen werden, wenn keine Alternativen verfügbar sind und wenn ihr gesellschaftlicher Nutzen die Risiken ihres Einsatzes rechtfertigt (siehe CR 12/2005). Nicht der sichere Umgang mit potentiell gefährlichen Stoffen, sondern ihre durch das Vorsichtsprinzip begründete Substitution um beinahe jeden Preis wird als das Ziel von REACh hingestellt.
Der vom EP formulierte Artikel 56 fordert, die in Art. 54 definierten VHC-Substanzen, die einer Zulassung bedürfen, in einem neuen Anhang (Annex XIII, jetzt: XIV) aufzulisten. Diese „Kandidatenliste“ wurde inzwischen zum Gegenstand heftiger Polemik. Denn es besteht die reale Gefahr, dass dieses Verzeichnis verdächtiger Stoffe sowohl von Umweltgruppen als auch von reputationsgefährdeten Konsumgüterherstellern als „Schwarze Liste“ interpretiert wird. So erklärte die amerikanische Handelskammer in Europa (AmChamEU) in einem im April 2006 veröffentlichten Positionspapier: „It is expected/feared that this list will be used by Green NGOs and their Governmental supporters to force companies to not use these substances before they have an opportunity to be authorised and while REACh allows for their lawful use.” AmChamEU sieht in der „Kandidatenliste” ein ungerechtfertigtes Handelshemmnis und hat bereits Klagen bei der WTO angekündigt. Der deutsche Chemieverband schloss sich in einem am 22. Mai veröffentlichten Statement zum EP-Votum den Befürchtungen der Amerikaner an. Dennoch hat der EU-Rat in seiner Gemeinsamen Position am Anhang XIV festgehalten.
Dagegen hat der Rat die vom EP in Art. 59 (früher: 57) eingeführte Befristung der Zulassung auf höchstens fünf Jahre zurückgenommen. Nun soll die EChA von Fall zu Fall entscheiden, in welchen Abständen die jeweilige Zulassung überprüft werden soll. Ob die Unternehmen damit an Rechts- und Investitionssicherheit gewinnen, bleibt dahingestellt. Ohnehin ist es offen, ob die Mehrheit des EP in Zweiter Lesung aufgrund schwieriger Kompromisse bzw. Kuhhändeln zwischen den Fraktionen und wegen des starken Drucks durch Umweltverbände wie Greenpeace oder WWF nicht doch auf ihrer in Erster Lesung eingeschlagenen harten Linie bleibt und auf der Pflicht zur Substitution besonders besorgniserregender Stoffe beharrt. Weil er offenbar Schlimmes ahnt, hat deshalb Bundeswirtschaftsminister Michael Glos Anfang Juli bei einem Gespräch mit EP-Präsident Joseph Borrell angekündigt, dass er weder im Rat noch in einem eventuell eingerichteten Vermittlungsausschuss einem Kompromiss zustimmen werde, der eine Befristung der Stoffzulassung und eine Substitutionspflicht enthält.
Ob die REACh-Verordnung zu den von ihren Befürwortern erhofften Ergebnissen führen wird, hängt nicht nur davon ab, wie sie selbst gestrickt ist. Vielmehr kommt es auch darauf an, wieweit sie sich mit bereits geltenden Regelungen verträgt. Um Reibungen zu minimieren, haben EP und Rat den Geltungsbereich von REACh bereits deutlich eingeengt. Der Rat hat entschieden, neben Lebensmitteln, Pharma- und Kosmetikprodukten auch „natürliche Substanzen“ wie Papierbrei, Erze und Mineralien und sogar Zementklinker aus dem Geltungsbereich von REACh herauszunehmen. Nicht betroffen von REACh sollen auch Abfälle und Recyclingprodukte sein. So liegt es für Unternehmen nun nahe, Artikel zu Abfällen bzw. Recyclingprodukten zu erklären, um REACh zu entgehen. Deshalb hat der Rat bereits angekündigt, als nächstes stehe eine entsprechende Novellierung der EU-Abfallrahmenrichtlinie 75/442/EWG an.
Ungelöst sind auch Konflikte zwischen REACh und den bestehenden nationalen Arbeitsschutzregelungen. Während REACh auf eine totale Harmonisierung der stoffbezogenen Vorschriften abzielt, werden die Arbeitgeber durch die geltende deutsche Gefahrstoffverordnung und ähnliche Regelungen in andern EU-Staaten eher dazu angehalten, Gefährdungen in Abstimmung mit der Arbeitnehmervertretung eigenverantwortlich zu beurteilen und entsprechende Schutzmassnahmen einzuleiten. Durch REACh drohen also Eingriffe in eingespielte Systeme betrieblicher Mitbestimmung und Selbstverwaltung, deren Konsequenzen noch gar nicht absehbar sind.
Die Tatsache, dass südeuropäische Unternehmen im europäischen Einspruch-Aktionsbündnis des Chemie-Mittelstandes gegen existenzbedrohende Bestimmungen von REACh (sehe CR 3/2006) kaum vertreten sind, weist übrigens darauf hin, dass diese wie selbstverständlich davon ausgehen, sie könnten weitermachen wie bisher. Vieles weist in der Tat darauf hin, dass wesentliche Vorschriften von REACh nur auf dem Papier funktionieren werden. Denn niemand kann sich vorstellen, wie die Umsetzung der etwa 700 Druckseiten umfassenden Vorschriften bis zum kleinsten Anwender kontrolliert werden könnte. „Für uns zählt nur, dass die Papiere in Ordnung sind“, bekennt ein Vertreter des deutschen Bundeswirtschaftsministeriums freimütig.