„Wenn ich etwas für richtig halte, dann mache ich es“

Prof. Hans-Georg Rammensee, Forscher und Immunologe an der Universität Tübingen (Bildquelle: Andreas Körner/BioRegio STERN Management GmbH)
 

(Stuttgart/Tübingen) – Prof. Hans-Georg Rammensee forscht seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Immunologie; dafür wurde er jüngst in die Akademie der Wissenschaften Leopoldina aufgenommen. Ihn beschäftigt die Möglichkeit, den Körper gegen alle Arten von Krebs zu impfen und er gilt als Wegbereiter der mRNA-Impfung. Für Aufsehen sorgte vor drei Jahren sein Selbstversuch mit einem von ihm entwickelten Corona-Impfstoff. Unternehmen wie CureVac, Immatics, Prime Vector, Atriva und Synimmune nennen ihn ihren Spiritus Rector. Seine Abteilung Immunologie am Interfakultären Institut für Zellbiologie der Universität Tübingen gilt als einzigartige Talentschmiede, die zahlreiche Start-ups hervorgebracht hat. Soeben hat er ein neues Unternehmen mitgegründet: die ViferaXS GmbH ist sein „Jüngstes“. Aber zufrieden ist der 70-Jährige noch lange nicht.

Der Mann in Schutzkleidung schwingt die Motorsäge so souverän, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er eigentlich in Hightech-Laboren mit wesentlich filigraneren Objekten zu tun hat. Dort kämpft Prof. Hans-Georg Rammensee gegen bösartige Krankheiten. „Wenn ich von der Gremienarbeit, die auch dazu gehört, mir aber nicht so liegt, genug habe, dann arbeite ich zum Ausgleich im Wald“, erklärt der Forscher. Er schätzt es sehr, wenn sich seine Gesprächspartner kurzfassen und prägnant formulieren – so wie er selbst. Das gilt auch für die Formulierung seines Lebensziels: Prof. Rammensee entwickelt eine Impfung gegen Krebs – gegen jeden Krebs.

Seine Mission begann vor einem halben Jahrhundert, als er, 20-jährig, seinen Zivildienst im Universitätsklinikum Tübingen leistete. „Ich habe Krebspatienten sterben sehen, auch junge Leute. Und ich habe das Gefühl der Hilflosigkeit der Ärzte erlebt.“ Statt wie geplant Maschinenbau zu studieren, entschied er, sich der Krebsforschung zu widmen. „Ich sah, dass die Medizin wenig tun konnte und wollte daher die wissenschaftlichen Grundlagen für die Entstehung von Krebs erforschen.“ Sein Biologiestudium finanzierte er sich unter anderem mit Nachtwachen auf der Krebsstation. Und lernte im Studium etwas kennen, das ihn sein ganzes Leben nicht mehr loslassen sollte: Killerzellen. „Ich habe mitbekommen, dass es im Immunsystem diese T-Zellen gibt, die virusinfizierte Zellen umbringen können“, erinnert sich Prof. Rammensee. „Das war damals ganz neu. Die späteren Medizinnobelpreisträger Rolf Zinkernagel und Peter Doherty hatten gerade erst herausgefunden, wie das Immunsystem von Viren befallene Körperzellen erkennt. Wenn diese T-Zellen virusinfizierte Zellen umbringen können, so meine Idee, vielleicht können die das ja auch bei Krebszellen?“

Von diesem Moment an verschrieb sich Prof. Rammensee ganz der Immunologie und entwickelte in den folgenden Jahrzehnten seinen innovativen Ansatz einer Immuntherapie gegen Krebs. „1976 galt diese Idee als völlig abstrus, ich war ein Exot. Nicht mal mein Doktorvater, der Immungenetiker Jan Klein, glaubte daran, dass es funktionieren könnte.“ Trotzdem ließ er den „Dickkopf Rammensee“ in seiner Abteilung am Max-Planck-Institut für Biologie in Tübingen seine Thesen überprüfen. Rammensee isolierte mit seinem Team biochemisch Peptide von HLA-Molekülen, weil vermutet wurde, dort seien Peptide vorhanden, die von T-Zellen erkannt werden. Und diese Peptide, so seine Idee, könnten von normalen zellulären Strukturen sein – oder eben von krebsspezifischen Antigenen. Die T-Zellen erkennen Veränderungen in den Peptiden, die beispielsweise durch Tumorerkrankungen verursacht werden. Prof. Rammensee und sein Team entwickelten in den folgenden Jahren ein Verfahren, mit dem sich die von den T-Zellen erkannten Peptidantigene aus Viren und Tumorzellen genau bestimmen lassen. Darauf aufbauend, kann eine individuelle Immuntherapie für Krebspatienten ansetzen, die das Immunsystem aktiviert und die Tumorzellen vernichtet.

Der als Mitbegründer der Chemotherapie berühmte Mediziner Paul Ehrlich hatte zwar schon im vorletzten Jahrhundert vermutet, dass das Immunsystem etwas gegen Krebs tun könne, konnte sich mit seiner Hypothese aber nicht nachhaltig durchsetzen. So gab es bis in die späten 1980er Jahre kaum jemanden in der etablierten Wissenschaft, der den Ansatz von Prof. Rammensee unterstützen wollte. „Ich habe aber gedacht, so könnte das funktionieren und wenn es niemand macht und ich es für richtig halte, dann mache ich es halt.“ Dieses Selbstbewusstsein hilft ihm auch heute noch, an seinem Ziel festzuhalten, das dann doch nicht so „leicht“ zu erreichen war, wie er gehofft hatte: „20 bis 30 Jahre, hatte ich damals geschätzt, dann haben wir die Impfung. Aber es war dann doch viel komplexer als gedacht und leider auch mit vielen Rückschlägen verbunden.“

Dass er immer noch jeden Morgen mit dem Fahrrad auf die „Morgenstelle“ kommt, um am Interfakultären Institut für Zellbiologie der Universität Tübingen die Abteilung Immunologie zu leiten, junge Wissenschaftler zu unterrichten und nebenbei auch noch Unternehmen gründet, das zeugt von großer Ausdauer – und Frustrationstoleranz. „Mein Ziel ist immer noch das gleiche wie seit vielen Jahren. Ich versuche, die personalisierte Krebs-Vakzinierung zum Erfolg zu bringen. Aber ich bin noch nicht an dem Punkt, an dem ich gerne wäre.“ Aktuell laufen zwei klinische Studien, die Prof. Rammensee vorsichtig optimistisch stimmen: „Wir sehen sehr starke Immunantworten, sehr schnell induziert, aber ob die jetzt wirksam sind gegen den Krebs, das kann man erst nach weiteren Studien sagen.“

Prof. Rammensee und sein Team haben international anerkannte Pionierarbeit bei der Aufklärung der Erkennungsmechanismen der T-Zellen im menschlichen Immunsystem geleistet. Dafür wurde der Ausnahme-Wissenschaftler, neben vielen weiteren Ehrungen, jüngst in die Akademie der Wissenschaft Leopoldina gewählt. Prof. Rammensee gilt als einer der Wegbereiter der mRNA-Impfung und sorgte durch seinen Selbstversuch während der Pandemie für Schlagzeilen. „Als die Sequenzen des neuen Corona-Virus bekannt wurden, war es für mich naheliegend, mit unseren Methoden zu untersuchen, welche Peptide in Frage kommen, die vom Immunsystem, also den T-Zellen, erkannt werden.“ Das Ergebnis war ein Impfstoff, den er sich selbst injizierte – wobei er die Aufregung darüber bis heute nicht ganz nachvollziehen kann: „Wenn ich was für richtig halte, dann mache ich es. Und wenn man sich in der Materie auskennt, dann weiß man auch, dass es nicht todesmutig ist. Es war auch nicht das erste Mal, ich hatte mich zuvor schon mit anderen Viruspeptiden geimpft – und da ging es auch gut aus.“ Seinen Mitarbeitern erlaubte er den Selbstversuch trotzdem nicht. Den Impfstoff, den er sich im März 2020 in normaler Laborqualität in den Bauch spritzte, hatte der Wissenschaftler selbst entwickelt. Als eine große Ausnahme in der deutschen Forschungslandschaft besitzt das Tübinger Institut eine eigene Herstellungserlaubnis für Arzneimittelwirkstoffe, die für klinische Studien eingesetzt werden können. „Wir haben Jahre gebraucht für diese Genehmigung. Aber wir dürfen jetzt die Wirkstoffpeptide für unsere klinischen Studien selbst herstellen – deutlich schneller und billiger als die Pharmaindustrie.“

Sein viel beachteter Selbstversuch führte zu einer offiziellen Studie, die zwar letztlich nicht den weltweit ersehnten Impfstoff brachte, aber weitere wichtige Erkenntnisse lieferte. Prof. Rammensee gilt in Fachkreisen als einer der Vordenker des RNA- Vakzins. Seinen Anteil am Erfolg von Biontech redet er trotzdem energisch klein: „Die Welt gerettet haben andere.“ Dass es in der Pandemie einige Forscher auf sich nahmen, regelmäßig öffentlich aufzutreten, bewundert er: „Wissenschaft muss erklären, was sie macht. Und möglichst allgemein verständlich. Das ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben.“ Auch Prof. Rammensee ist weit entfernt vom Elfenbeinturm; dem Immunologen war von Anfang an die erfolgreiche wirtschaftliche Umsetzung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse wichtig. Sein Institut gilt als Talentschmiede aus der unter anderem Dr. Harpreet Singh, Mitgründer von Immatics, und Dr. Ingmar Hörr, Mitgründer von CureVac kommen. Auch die Unternehmen Prime Vector, Atriva, BamOmaB und Synimmune haben hier ihren Anfang genommen. Als „Ziehvater“ sieht sich Rammensee aber nicht: „Ich ermutige immer die jungen Leute, das zu machen, was sie für richtig halten, es auch gegen Widerstände durchzusetzen. Selbst wenn der Chef, also ich, dagegen ist. Ich kann meinen Rat loswerden, auf den man hört – oder auch nicht.“ Soeben hat er erneut gegründet – seine jüngste Firma heißt ViferaXS und soll die personalisierte Peptidvakzinierung gegen Krebs zum Erfolg bringen. Natürlich wieder in Tübingen. „Ich hatte schon verschiedene Angebote, aber ich wollte hier nicht weg. Tübingen ist ein sehr guter Ort, um Wissenschaft zu machen. Und er wird immer weiter ausgebaut. Für die Life-Sciences haben wir hier in der BioRegion STERN alles an Infrastruktur da.“

Nur eines stört Prof. Rammensee: „Noch hat keines der von mir mit-initiierten Unternehmen ein richtiges Produkt. Bisher bin ich nicht mit den erzielten Teil-Erfolgen zufrieden.“ Ans Ausruhen denkt er deshalb noch lange nicht, auch wenn er sich bemüht, zumindest an den Wochenenden auch mal zu Hause zu bleiben. „Ich habe zu Beginn meiner Karriere die Familie vernachlässigt. Das versuche ich jetzt zu kompensieren. Wissenschaft und Familie lässt sich nicht gut vereinbaren. Ich habe viel Zeit im Labor verbracht. Sonntagmorgens um vier oder an Weihnachten, wenn es die Versuchsreihe erforderte.“ Dass zukünftige Forscher und Forscherinnen es da vielleicht etwas einfacher haben werden, weil ihnen Roboter im Labor Routinearbeiten abnehmen und Künstliche Intelligenz hilft, Daten zu analysieren, kann er sich gut vorstellen. „Aber die kreative Arbeit, die Entscheidung, welche Experimente jetzt notwendig sind, welche Probleme jetzt gelöst werden müssen, die können wir nicht abgeben.“ Und wenn das Nobelpreiskomitee anruft? Rammensees Name fiel schließlich immer wieder in den vergangenen Jahren. „Da gibt es Leute, die viel mehr geleistet haben. Auf den Anruf warte ich nicht.“ Und wenn er doch kommt? „Dann gehe ich erstmal Holz sägen.“

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