Ein Urologe, der seinen Patienten in die Augen schaut

Prof. Dr. Dr. h. c. Arnulf Stenzl, Urologe und Forscher (Bildquelle: Andreas Körner/BioRegio STERN Management GmbH)
 

(Stuttgart/Tübingen) – Prof. Dr. Dr. h. c. Arnulf Stenzl war 21 Jahre lang Ärztlicher Direktor der Klinik für Urologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) ist in Fachkreisen als international renommierte Autorität auf dem Gebiet der Behandlung von Blasen- und Prostatakrebs sowie der rekonstruktiven Urologie bekannt. Als Forscher engagiert er sich aktuell in einem Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), er hält das Patent für eine Vorrichtung zur Behandlung von Harninkontinenz. Weil er als Generalsekretär der Europäischen Gesellschaft für Urologie (EAU) deren 19.000 Mitglieder optimal vertreten will, ist er nach wie vor als Mediziner im OP der Urologie des Diakonie-Klinikums Stuttgart tätig. Wenn er sich entspannen möchte, steigt der 68-Jährige aufs Rennrad – und fährt vorzugsweise bergauf.

Es überrascht ein bisschen, dass dieser drahtige Mann gleich nach den Süßigkeiten greift. Aber Prof. Stenzl kommt gerade aus dem OP. „Prostata, Routineeingriff“, erklärt er knapp und ergänzt: „Ich habe untertags oft keine Zeit zum Essen. Weil mir Dinge im Kopf rumgehen, wo das Essen nicht so wichtig ist. Aber manchmal wird der Unterzucker dann schon bemerkbar.“ Prof. Stenzl ist begeisterter Ausdauersportler. Zur Entspannung fährt er schon mal die berühmte Tour-de-France-Etappe auf den Mont Ventoux: 1.594 Höhenmeter auf 20 Kilometer Straße. Auch zu Hause in Tübingen ist er viel mit dem Fahrrad unterwegs, meist allein: „Freitagabend und Samstagfrüh, da bin ich nicht gesellschaftstauglich. Reden macht Spaß, aber irgendwann ist auch Schluss.“ Der Sport ist ihm wichtig – auch für seine Arbeit, denn immer noch steht der 68-Jährige regelmäßig stundenlang am OP-Tisch.

Nach 21 Jahren als Ärztlicher Direktor der Klinik für Urologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, wurde Prof. Stenzl im vergangenen September in den „Ruhestand“ verabschiedet. Die Abschiedsvorlesung für den international renommierten Top-Mediziner hielt Bundespräsident a. D. Prof. Dr. Horst Köhler, der

den Urologen nicht nur als Patient schätzen gelernt hatte, wie er in seiner Rede betonte. Aber natürlich ist es für Stenzl undenkbar, sich auf den Lorbeeren auszuruhen. So folgte er dem Ruf nach Stuttgart in die Urologie des Diakonie-Klinikums. Warum er als ehemaliger Chefarzt Routineeingriffe vornimmt? „Ich bin Generalsekretär der Europäischen Gesellschaft für Urologie mit 19.000 Mitgliedern. Ich kann die nicht vertreten, wenn ich nicht klinisch tätig bin, nur so kann ich sehen was positiv und negativ läuft.“ Mit seinem Status als „Promi-Arzt“ geht er dabei pragmatisch um: „Im klinischen Alltag interessiert das hier niemanden, aber wenn es um Forschungsgelder geht, kann einem ein gewisser Nimbus schon nützlich sein.“

Ein Chirurg mit Ideen

Und natürlich lässt ihn die Forschung nicht los. Seine Expertise bei Blasen- und Prostatakrebs sowie der rekonstruktiven Urologie ist weltweit anerkannt. Er hält unter anderem ein internationales Patent für eine implantierbare Vorrichtung zur Behandlung von Harninkontinenz. Wenn man ihm jedoch unterstellt, dass er immer alles um sich herum verbessern möchte, winkt er ab: „Das sind oft Gedanken, die viele Leute haben. Ich bin aber auch nicht der Geschäftsmann, der das dann toll umsetzen kann. Ich habe manchmal Ideen und versuche sie weiterzuverarbeiten.“ Dabei pflegt Prof. Stenzl intensiven Kontakt zu Entwicklern und Ingenieuren aus der Medizintechnik: „Die Urologie ist eine Disziplin, in der Techniken wie Endoskopie, Laparoskopie oder Laser eine große Rolle spielen.“ So ist der Chirurg auch Direktor des Interuniversitären Zentrums für Medizinische Technologien Stuttgart-Tübingen (IZST). In dieser Funktion begleitet er die erfolgreiche Workshopreihe „Einschnitte – Einblicke“, die regelmäßig gemeinsam mit der BioRegio STERN Management GmbH am Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik der Universität Tübingen durchgeführt wird. Stenzl sowie weitere Medizinerinnen und Mediziner diskutieren Eingriffe, die live endoskopisch und offen-chirurgisch am anatomischen Präparat dargestellt werden. „In diesen Veranstaltungen zeigen wir nicht, wie gut wir sind. Vielmehr zeigen wir, welche Defizite und Schwierigkeiten es gibt, damit die Medizintechniker Ideen entwickeln, um es Patienten zukünftig leichter zu machen“, betont Stenzl.

Als Forscher beschäftigt ihn aktuell „Die Untersuchung der klinischen Auswirkungen einer veränderten Epigenetik anhand von Organoidmodellen des Urothelkarzinoms“. In diesem DFG-Projekt wird Patienten Tumorgewebe entnommen und zu Organoiden, also 3D-Konstrukten entwickelt, um daran zu testen, welche Chemotherapie optimal wirkt. Und weil ihm Geschwindigkeit nicht nur im Radsport wichtig ist, denkt er auch darüber nach, wie sich die Prozesse bei Vorsorgeuntersuchungen von Männern beschleunigen lassen. „Bisher kommen die Männer in die Praxis, dort wird Urin untersucht und eine Ultraschalluntersuchung durchgeführt. Wenn auffällige Biomarker wie beispielsweise PSA im Blut nachgewiesen werden, gibt es einen neuen Termin für eine Bildgebende Untersuchung, beispielsweise MRT oder Kernspin-Tomographie, dann einen Termin für die Besprechung, dann eine Biopsie. Das zieht sich über Wochen hin“, moniert Stenzl. „Ich will erreichen, dass der Patient morgens kommt, mittags das PSA-Ergebnis da ist, wenn notwendig nachmittags die MRT und spätestens am nächsten Tag eine allfällige Biopsie mit einem pathologischen Befund am gleichen Tag durchgeführt wird. Wenn durch diese „Logistik“ dann innerhalb von maximal 36 Stunden ein Ergebnis vorliegt, erspart das dem Patienten psychischen Stress und dem Gesundheitssystem Ressourcen und Kosten.“ Das Prostata-spezifische Antigen (PSA) ist ein Biomarker der ausschließlich in der Prostata gebildet wird, ein erhöhter Spiegel im Blut kann auf ein Prostatakarzinom hindeuten.

König oder Straßenfeger: Körperfunktionen sind immer gleich

Prof. Stenzl hat sich ganz bewusst für sein Fachgebiet entschieden: „Ich wollte schon sehr früh in die Urologie, es ist ein recht kleines Fach. Aber mich interessiert das Rekonstruktive, das macht mir Spaß. Und es wird zwar immer als Männer-Dings gesehen, aber 30 Prozent meiner Patienten sind Frauen.“ Prostata- und Blasen-Karzinome gehören zu den häufigsten Krebsarten, und Harn-Inkontinenz ist ein Massen-Problem. Stenzl ist ausgewiesener Spezialist, wenn es gilt, die Blase auch für diese Patienten funktionsfähig zu erhalten und Katheter mit Urinbeutel – was auch für jüngere Männer ein Thema sein kann – zu vermeiden. Leider sind regelmäßige Krebs-Vorsorgeuntersuchungen für die wenigsten Männer Routine. „Zum Urologen müssen vermeintlich nur alte Männer. Dabei ist Vorsorge auch bei jungen Männern nicht nur zur Früherkennung von Hodentumoren sehr sinnvoll, sondern auch zur rechtzeitigen Behebung von angeborenen Fehlbildungen“, insistiert der Mediziner. „Seit dem Wegfall der Wehrpflicht haben viele Männer erst sehr spät Kontakt zu einem Arzt. Bei Frauen ist das anders, da sie unter anderem wegen der Empfängnisverhütung schon früh einen Frauenarzt aufsuchen. Außerdem sind Frauen bei der Gesundheitsvorsorge oft disziplinierter. Und sie haben weniger Scheu, bei Problemen im Genitalbereich einen Arzt um Rat zu fragen.“ Dass sein Fachgebiet für den Laien teilweise schambehaftet ist, ist ihm klar: „Aber wir sind alle Menschen, ob wir König, Politiker oder Straßenfeger sind, die Körperfunktionen sind immer die gleichen. Das Versagen von Körperfunktionen im Becken- und Genitalbereich wie Inkontinenz, Impotenz oder Unfruchtbarkeit, sind unser „täglich Brot“, aber häufig Tabuthemen in der Urologie. Das Funktionieren hängt von inneren Faktoren wie Hormonen, Herz-Kreislauffunktion, physischer und psychischer „Fitness“ ab und von äußeren Einflüssen wie Ernährung, sozialem Stress oder Beruf. Es kann behandelt werden, wenn Betroffene es kommunizieren.“ Seine Methode, damit die Patienten auch über „Unaussprechliches“ reden: „Einfach offen ansprechen und dabei sachlich bleiben. Ich muss wissen, was wann nicht funktioniert.“ Dabei muss er häufig auch große Wissenslücken schließen: „Gerade im Internet trifft Tabulosigkeit auf Ahnungslosigkeit. Wir sehen bei unserer Arbeit im OP zum Beispiel häufig die schrecklichen Folgen von Penisvergrößerungen, weil Männer eine völlig falsche Vorstellung davon haben, was „normal“ ist.“

Ein Europäer, dem Europa manchmal zu langsam ist

Stenzl studierte und promovierte in Graz; arbeitete in Los Angeles, Bern und dann zehn Jahre lang in Innsbruck. „Das ist auch der Grund, warum ich für meine Kollegen in Tübingen immer der Tiroler gewesen bin“, lacht er. Ein Amerikaner ist er jedoch nie geworden, obwohl er während seiner Tätigkeit an der Universität von Kalifornien, Los Angeles, (UCLA) das Angebot bekam, zu bleiben: „Mich hat aber die Härte abgeschreckt. Kollegen, die kurz vor 60 waren, wurden rausgedrängt, weil sie nicht mehr die volle Leistung gebracht haben. Und wer in eine Praxis gegangen ist und krank wurde, hat unter Umständen monatelang nichts verdient. Ich bin doch in einem ruhigeren Fahrwasser aufgewachsen, die Medizin in den USA ist einerseits durch Rechtsstreitigkeiten zu defensiv, andererseits auch zu kommerzialisiert.“ Eine überraschende Argumentation für einen, dem es eigentlich nicht schnell genug gehen kann und der in seiner Arbeit täglich kalkulierbare Unwägbarkeiten eingeht. Tatsächlich war die Rückkehr nach Europa ein erneuter Kulturschock: „Rückblickend bin ich froh, aber die erste Zeit war nicht so gut. Hier war der Trott schon sehr viel langsamer und bürokratischer. Auf der einen Seite die USA, da steigt man schnell auf, wenn man fleißig ist und ein bisschen Talent hat. Und auf der anderen Seite Europa, wo beispielsweise bei Veränderungen oder Erfindungen alles ewig dauert.“ Nach fast 35 Jahren auf dem alten Kontinent gilt EAU-Generalsekretär Stenzl inzwischen als „Europäer in der Urologie“. In Kooperation mit europäischen Kollegen hat er beispielsweise ein EU-weit standardisiertes regelmäßiges Screening zur Früherkennung von Prostata-Krebs angestoßen.

Die zahlreichen Ämter, seine Forschung und seine chirurgische Expertise bringen es mit sich, dass Prof. Stenzl viel unterwegs ist – und selten zu Hause. Das war nicht immer einfach für den dreifachen Familienvater: „Ich hatte schon medizinische Notfälle an Heiligabend, da ging es um Leben und Tod. Und wenn ich dann spät wieder nach Hause kam, haben die Kinder bereits geschlafen. Wir haben dann Heiligabend halt auf den 25. Dezember verlegt. Das sind die Dinge, die dieser Beruf mit sich bringt, wenn man sich engagiert.“ Abgeschreckt hat das die Kinder wohl nicht – inzwischen studieren alle drei selbst Medizin. „Leider wollten sie nichts Anständiges lernen“, schmunzelt er. Vielleicht haben seine Kinder ja eine Eigenschaft geerbt, die er, wie er selbst sagt, ein wenig im Übermaß besitzt: Sturheit. „Es ist schön blöd, wenn man stur ist, aber manchmal, wenn es um Verbesserungen im OP geht, könnte man sogar noch mehr Sturheit brauchen“, stellt er fest. „Hier können wir dann doch von den USA lernen. Da werden Entwicklungen viel intensiver unterstützt, damit sie schneller in die Kliniken kommen.“ Enttäuschungen bleiben auch einem renommierten Forscher und Mediziner wie Stenzl nicht erspart: „Da bin ich einer, der nicht schnell reagiert, aber alleine kann man eine komplexe Situation meistens nicht lösen. Da braucht man eine Gruppe, Schwarmintelligenz. Ich frage nach und suche Rat.“ Nicht zuletzt deswegen wird Stenzl auch immer wieder als Kommunikator gelobt – eine Fähigkeit, die insbesondere Chirurgen oft abgesprochen wird. Sein Credo als Vater und Forscher, Chirurg und Urologe: „Setzen Sie sich zusammen und sehen Sie sich direkt in die Augen.“ Dann eilt er zurück in den OP.

Save-the-date!

Der nächste Workshop „Einschnitte – Einblicke“ findet live und vor Ort in der Klinischen Anatomie in Tübingen am 26. Juni 2024 statt.

https://www.bioregio-stern.de/de/termine/einschnitte-einblicke-individualisierte-chirurgie-sensorik-robotik-ki-0

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