In der Übergangsphase zwischen Tierexperimenten und den ersten Einsätzen beim Menschen befinden sich heute sogenannte ableitende Verfahren wie der Einsatz von Gehirn-Computer-Schnittstellen zur Ansteuerung motorischer Neuroprothesen. Vereinfacht heißt das, Hirnaktivität wird in einen Miniatur-Computer, der in den Körper eingepflanzt wurde, abgeleitet. Der Computer analysiert und interpretiert die neuronalen Signale aus dem Gehirn, um daraus eine Bewegungsprognose zu errechnen, die dann eine Ansteuerung externer Geräte, wie beispielsweise eine Neuroprothese oder einen Roboterarm ermöglicht. Der Computer erzeugt also die nötigen Signale, um sinnvolle Bewegungen des künstlichen Arms zu ermöglichen. Eine faszinierende Möglichkeit für eingeschränkt bewegungsfähige Menschen. Sie könnten lernen, neuronale Signale so zu erzeugen, dass sie unter Verwendung der Gehirn-Computer-Schnittstelle wieder schriftlich kommunizieren könnten. „Es ist jedoch auch abzusehen, dass durch die weiter fortschreitende Annäherung von Mensch und Technik die Grenzen zwischen Natur und Technik mehr und mehr verschwimmen werden“, weiß Dr. Jens Clausen. Und erklärt dazu: „Zwar lassen sich aus einer externen Beobachterperspektive Mensch und Technik materiell relativ gut voneinander separieren. Funktional müssen sie jedoch in die elektro-physiologischen Prozesse des Gehirns und die damit verbundenen neuronalen Funktionen integriert sein, um den gewünschten Erfolg erreichen zu können“. Es stellen sich die Fragen: „Wird die Technik ein Teil des eigentlichen Menschen, wenn sie in das Gehirn implantiert und funktional integriert wird? Welche Bedeutung hätte dies für unser Verständnis von moralischem Handeln, Zurechnungsfähigkeit, Verantwortung und Selbstbestimmung?“
Nach der „Extended Mind“ Theorie von Andy Clark und Daid Calmers ist die Integration in das Selbstkonzept des Gehirns kein Spezifikum von Gehirn-Computer-Schnittstellen. Sie behaupten, dass jedes Gerät, das der Mensch als Werkzeug nutzt, in sein Selbstkonzept eingreift. So auch ein Notebook, das als Werkzeug zum Teil des menschlichen geistigen Prozesses wird, indem es diesen erweitert. (Anm: daher „extended mind“). So gesehen könnte auch die Gehirn-Computer-Schnittstelle als Werkzeuggebrauch gesehen werden. Neu ist hier, dass die externen Geräte direkt durch die vom Hirn abgeleiteten neuronalen Signale gesteuert werden und nicht wie gewöhnlich durch Arme und Hände des Nutzers.
Nicht zu unterschätzen ist die Haftungsfrage: „Eine vollständige Fehlerfreiheit einer Schnittstelle ist nicht realisierbar. Die verbleibende Unsicherheit könnte über eine Versicherungspflicht abgefedert werden“, so Clausen. Um die Zuverlässigkeit dieser Geräte zu steigern, würden Machine-Learning-Algorithmen implementiert, so dass das System selbst lerne, die vom Nutzer generierten Signale richtig zu interpretieren. Dies bedeute für den Menschen jedoch, die Kontrolle über das Ergebnis mit dem System zu teilen. Und schon stellt sich die nächste Frage: Kann der Nutzer dann für die Ergebnisse verantwortlich sein und für seine Handlungen haften? Wie sieht es mit der Haftung des Herstellers aus? Die dynamischen Prozesse der Schnittstelle sind nur teilweise prognostizierbar. Eine Garantie für Verhaltensweisen gibt es nicht.
Die Vorteile dieser innovativen Technologie sind in der Gesellschaft noch weitgehend unbekannt. Und so machen Experten auch auf eine schwierige Sterbehilfeproblematik aufmerksam: Was, wenn eine Patientenverfügung besteht, aber unklar ist, ob die gegenwärtig technischen Möglichkeiten beim Patienten überhaupt bekannt waren? Und wie ist die Autonomie der Betroffenen zu schützen, wenn sie mit Hilfe einer Schnittstelle den Wunsch zu sterben äußern würden? Dringende Fragen, die dringender Antworten bedürfen, so Clausen.