Medikamente sind ein wichtiger Bestandteil der Behandlung von Depressionen. Acht bis zehn Prozent der Deutschen nehmen Antidepressiva [1]. Die meisten PatientInnen könnten diese nach etwa einem Jahr wieder absetzen. Viele haben jedoch Mühe, davon loszukommen. Mehr als jede dritte Person nimmt Antidepressiva länger ein als notwendig [2, 3]. Grund hierfür ist unter anderem eine negative Erwartungshaltung, der sogenannte Nocebo-Effekt: „Viele PatientInnen sind beim Absetzversuch von rasch vorübergehenden Absetzeffekten wie Schlaflosigkeit, Schwindel oder Reizbarkeit betroffen und missverstehen diese als Rückfall. Die daraus entstehende Angst verstärkt die Beschwerden noch, weshalb die PatientInnen den Absetzversuch oftmals abbrechen, statt durchzuhalten“, erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Klinische Neurowissenschaften an der Universitätsmedizin Essen und Sprecherin des Sonderforschungsbereichs (SFB) 289 „Treatment Expectation“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Darin untersucht ein interdisziplinäres Forschungsteam in 16 Teilprojekten, wie Erwartungen den Behandlungserfolg beeinflussen und wie sich dieser Effekt bei verschiedenen Erkrankungen therapeutisch nutzen lässt.
„Unsere Studienergebnisse weisen darauf hin, dass bessere Aufklärung und das gezielte Wecken positiver Erwartungen helfen können, den unheilvollen Kreislauf beim Absetzen von Antidepressiva zu durchbrechen“, sagt SFB-Projektleiterin Yvonne Nestoriuc, Professorin für Klinische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Sie plädiert daher für unterstützende psychotherapeutische Elemente, die helfen, Erwartungen beim Antidepressiva-Absetzen zu optimieren und dem Nocebo-Effekt vorzubeugen. Der Nocebo-Effekt ist keine „Einbildung“, sondern in unterschiedlichen medizinischen Studien vielfach nachgewiesen [4-7]: Im Gegensatz zur positiven Wirkung beim Placebo-Effekt (Lat. „Ich werde gefallen“) sorgt beim Nocebo-Effekt (Lat. „Ich werde schaden“) allein die Erwartung negativer Folgen dafür, dass Prozesse im zentralen Nervensystem angestoßen werden, die zu körperlichen Veränderungen führen.
Hohe Belastung durch unnötige Einnahme von Antidepressiva
„Es ist ein Missstand, dass viele PatientInnen Antidepressiva viel zu lange einnehmen. Mit unserer Forschung wollen wir dazu beitragen, die Informations- und Versorgungslücke für PatientInnen mit Absetzwunsch zu schließen“, betont Prof. Nestoriuc. Unerwünschte Nebenwirkungen durch eine nicht mehr indizierte Einnahme seien nicht nur eine Belastung für die PatientInnen, sondern auch für das Gesundheitssystem, so die Psychologin. Bei Jahresgesamtkosten für Antidepressiva von 640 Millionen Euro könne man durch eine bessere Unterstützung der PatientInnen 190 bis 250 Millionen Euro jährlich sparen, so ihre Einschätzung [8]. Prof. Nestoriuc fordert daher erweiterte Behandlungsleitlinien, in denen festgelegt ist, dass verschreibende ÄrztInnen über die Absetzproblematik aufklären.
Leben ohne Antidepressiva – mit Begleitung den Tiefpunkt überwinden
Antidepressiva sind nur in seltenen Fällen als lebenslange Therapie sinnvoll, denn sie können zu Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, sexuellen Problemen und einem erhöhten Risiko für Herzrhythmusstörungen führen. Als medizinische Empfehlung gilt: Verbessern sich nach etwa vier Wochen, in denen Antidepressiva ihre volle Wirksamkeit entfalten, die depressiven Symptome, sollte das Medikament noch vier bis neun weitere Monate eingenommen werden, bei mehrfach depressiven Episoden weitere zwei Jahre. Herrscht dann immer noch weitgehende Symptomfreiheit, sollte ein Absetzversuch erfolgen. Dabei können vorübergehende Beschwerden wie Schwindel, Schlaflosigkeit, Schwäche, Reizbarkeit, Übelkeit und Schmerzen auftreten – sie gleichen den Symptomen einer Depression, was bei PatientInnen die Angst vor einem Rückfall auslösen und zu einem Abbruch des Absetzversuchs führen kann. „Um zwischen Rückfall und Absetzproblematik zu unterscheiden, ist eine intensive ärztliche Begleitung notwendig, die auch den Nocebo-Effekt berücksichtigt und die PatientInnen darüber aufklärt“, betont Prof. Nestoriuc.
Forschung zum Nocebo-Effekt unterstützen – Angebot für PatientInnen
PatientInnen aus dem Großraum Hamburg sowie Marburg, die ihr Antidepressivum mit ärztlicher und psychologischer Begleitung absetzen möchten, können an der aktuellen PHEA-Studie teilnehmen, die am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und an der Philipps-Universität Marburg durchgeführt wird. Informationen unter www.phea-studie.de
Referenzen
[1] Grieß, A. (2015). Nutzung von Antidepressiva seit 2000 deutlich angestiegen. Statista Infografiken. Abgerufen am 2. Mai 2022, von https://ots.de/YBs6cW
[2] Van Leeuwen, E., Driel, M. L., Horowitz, M. A., Kendrick, T., Donald, M., De Sutter, A. I., … & Christiaens, T. (2021). Approaches for discontinuation versus continuation of long-term antidepressant use for depressive and anxiety disorders in adults. Cochrane Database of Systematic Reviews (4).
[3] Ambresin, G., Palmer, V., Densley, K., Dowrick, C., Gilchrist, G., & Gunn, J. M. (2015). What factors influence long-term antidepressant use in primary care? Findings from the Australian diamond cohort study. Journal of affective disorders, 176, 125-132.
[4] Jensen, K. B., Kaptchuk, T. J., Kirsch, I., Raicek, J., Lindstrom, K. M., Berna, C., … & Kong, J. (2012). Nonconscious activation of placebo and nocebo pain responses. Proceedings of the National Academy of Sciences, 109(39), 15959-15964.
[5] Benedetti, F., Durando, J., & Vighetti, S. (2014). Nocebo and placebo modulation of hypobaric hypoxia headache involves the cyclooxygenase-prostaglandins pathway. PAIN®, 155(5), 921-928.
[6] Bingel, U., Wanigasekera, V., Wiech, K., Ni Mhuircheartaigh, R., Lee, M. C., Ploner, M., & Tracey, I. (2011). The effect of treatment expectation on drug efficacy: imaging the analgesic benefit of the opioid remifentanil. Science translational medicine, 3(70), 70ra14-70ra14.
[7] Pan, Y., Kinitz, T., Stapic, M., & Nestoriuc, Y. (2019). Minimizing drug adverse events by informing about the nocebo effect – an experimental study. Frontiers in Psychiatry, 10, 504.
[8] Ludwig, W.-D., Mühlbauer, B., & Seifert, R. (Hrsg.): Arzneiverordnungs-Report 2021. Springer-Verlag, 2021. Arzneiverordnungs-Report 2021 | SpringerLink
Der Sonderforschungsbereich Treatment Expectation
Der überregionale, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Sonderforschungsbereich (SFB/Transregio 289) „Treatment Expectation“ untersucht seit dem Jahr 2020 mit einem interdisziplinären Team den Einfluss der Erwartung von PatientInnen auf die Wirksamkeit medizinischer Behandlungen. Die Forschungsansätze gestalten sich multidimensional, vielschichtig und komplex, um valide Antworten auf die entscheidende Frage zu finden: Welche Effekte haben positive und negative Erwartungen von PatientInnen auf den Erfolg einer Behandlung und das Auftreten von Nebenwirkungen?
Zahlreiche weitere Informationen rund um die Themen Placebo und Nocebo aufwww.treatment-expectation.de
Pressekontakt:
Sonderforschungsbereich Treatment Expectation
Prof. Dr. Yvonne Nestoriuc
Tel.: 040 6541 2976 (Dienstag bis Donnerstag, 9:30-13:00 Uhr)
E-Mail: y.nestoriuc@hsu-hh.de
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