»Schmerz gehört nicht zwangsläufig zum
Alter«, sagt der Ludwigshafener Schmerztherapeut Dr. Oliver Emrich
auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt. Eine
ausreichende Schmerzbehandlung ist sogar ethische Verpflichtung, denn
allzu häufig schränkt vorwiegend der Schmerz den Aktionsradius alter
Menschen ein und macht sie depressiv. Doch bei der Auswahl von
Medikamenten müssen Ärzte die körperlichen und psychischen
Besonderheiten dieser Altersgruppe berücksichtigen.
Eine repräsentative Untersuchung in sechs europäischen Ländern
belegt, dass knapp 70 Prozent der über 75-Jährigen unter Schmerzen
leiden, 50 Prozent geben an, in ihrer Mobilität eingeschränkt zu
sein. Das auch bei den Betroffenen selbst verbreitete Vorurteil, dass
Schmerz eben zum Alter gehört, ist mit dafür verantwortlich, dass
viele dieser alten Menschen keine adäquate Schmerztherapie erhalten.
»Dies hat schlimme Folgen«, erklärt Dr. Oliver Emrich, Vizepräsident
der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie. »Denn häufig nehmen
in diesen Fällen auch die mit Schmerz assoziierten objektiven
Behinderungen zu«, berichtet der Ludwigshafener Schmerztherapeut. Die
körperlichen, sozialen und psychologischen Fähigkeiten der
Betroffenen werden zusätzlich beeinträchtigt. Es entsteht eine
fataler Kreislauf: Die Schmerzen und ihre Auswirkungen verursachen
nicht nur Leid, sondern auch Angst und Depression, die wiederum den
Schmerz verstärken.
ALTE SCHMERZPATIENTEN UNTERVERSORGT
Den Folgen schlecht oder gar nicht behandelter Schmerzen wird zu
wenig Beachtung geschenkt. »In Pflegeheimen wird, falls überhaupt, am
häufigsten mit dem Aufkleben eines Schmerzpflasters reagiert«, weiß
Emrich. »Es ist kaum bekannt, dass Symptome wie Depression und Angst,
Schlafstörungen, Gewichtsverlust und Störungen der Kognition mit
Schmerz einhergehen können, ja mitunter sich sogar als »Schmerz«
phänomenologisch äußern.« Bei alten Menschen und Heimbewohnern wird
der Schmerz aber kaum je mal regelhaft gemessen oder erfasst, obwohl
dies auch bei Menschen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen
möglich wäre. Selbst wenn der ältere Mensch kognitiv nicht mehr in
der Lage ist, eine Schmerzskala zu bedienen oder seinen Schmerz zu
verbalisieren, gibt es mittlerweile standardisierte Messinstrumente,
die sich auf Beobachtung und Fremdurteil durch Angehörige und
Behandler stützen. Sogar bei dementen Patienten ist es möglich
Schmerz und die damit verbunden Phänomene zu messen.
PROBLEM MEHRFACHERKRANKUNGEN UND ZU VIELE ARZNEIMITTEL
Doch nicht nur die schmerzmedizinische Unterversorgung älterer
Menschen bereitet den Experten Sorgen. Erschwert wird die
medikamentöse Therapie im Alter durch Mehrfacherkrankungen und die
Kombination einer Vielzahl von Medikamenten. Zwar leiden Menschen mit
zunehmendem Alter weniger häufig unter Migräne und Kopfschmerzen.
Doch dafür treten andere chronische Erkrankungen mit ihren oft
schmerzhaften Folgen und Begleiterscheinungen in den Vordergrund:
Diabetes, Herzschwäche, Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen,
Gelenkerkrankungen oder Osteoporose.
»Alte Patienten kommen regelhaft mit nicht weniger als acht
gleichzeitig verordneten Medikamenten aus einer Klinik zurück«, weiß
Emrich, der auch als Hausarzt tätig ist. Den Behandlern, ob in Klinik
oder Praxis, ist dabei die Wechselwirkung gleichzeitig eingenommener
Medikamente häufig kaum bewusst. Gerade Schmerzmittel bergen im Alter
besondere Risiken bezüglich der Magen-Darmverträglichkeit oder
bezüglich Schwindel und Sturzgefahr, sind aber andererseits
unverzichtbar zum Erhalt von Aktionsradius und Lebensqualität.
»Wir brauchen leitliniengestützte Hinweise für eine sichere
Arzneitherapie im Alter, die sich an den subjektiven Beschwerden
orientiert und Wirkungen und Wechselwirkungen der Medikamente
beachtet«, fordert die Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie.
Zwar seien die besonderen Risiken antientzündlicher Pharmaka (NSAR)
oder die Probleme von Antidepressiva im Alter hinreichend bekannt,
doch sie würden wenig beachtet. »Zu viele Medikamente können Senioren
mehr schaden als nutzen«, sagt Emrich. Bei drei Medikamenten lassen
sich Wechsel- und Nebenwirkungen noch abschätzen, bei acht Arzneien
hingegen kaum noch.
Dies bringt eine Fülle von Problemen mit sich. »Häufig versorgen
Angehörige die älteren Menschen noch in gutem Glauben mit
Johanniskraut, Gingko und Grapefruitsaft, um nur drei Beispiele zu
nennen«, sagt der Ludwigshafener Schmerztherapeut. Dies kann extreme
Auswirkungen in Form von Wechselwirkungen und
Konzentrationsveränderungen anderer Wirkstoffe im Blut nach sich
ziehen. »So können einerseits die Wirkungen von Medikamenten völlig
aufgehoben werden, andererseits sind toxische Neben- und
Wechselwirkungen mit Todesfolge möglich. Emrich: »Von einer sicheren
Arzneitherapie im Alter sind wir weit entfernt.« Hilfe versprechen
sich die Ärzte von wachsenden pharmakologischen Datenbanken, in denen
sich im Zweifelsfall Wechselwirkungen von Medikamenten abfragen
lassen.
HOFFNUNG GERIATRISCHE REHABILITATION
Alte Menschen werden durch Schmerz und Funktionseinschränkungen
häufig vorzeitig immobil, behindert und hilfebedürftig. Eine
ausreichende Schmerztherapie kann dazu beitragen, dass sich alte
Menschen wieder altersgerecht bewegen können. Nötig sind dazu auch
multimodale Programme, um die Autarkie eines alternden Menschen im
Rahmen seiner Möglichkeiten zu erhalten oder wiederherzustellen. Dazu
gehören nicht nur sorgfältig ausgewählte Medikamente, sondern auch
geriatrische Trainingstherapie, Sporttherapie und Psychotherapie, die
an die speziellen Bedürfnisse dieser Patienten angepasst sind. Im
Rahmen einer so verstandenen und schmerztherapeutisch begleiteten
geriatrischen Rehabilitation können mitunter Ressourcen mobilisiert
werden, an die weder der Patient noch seine Angehörigen noch zu
glauben gewagt hätten.
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