Neurodegenerative Erkrankungen stellen eine der größten
Herausforderungen unserer alternden Gesellschaft dar. Die Erforschung
dieser Krankheiten wird aber wegen der eingeschränkten Verfügbarkeit
von menschlichem Gehirngewebe besonders erschwert. Wissenschaftler
des Forschungszentrums Life & Brain und der Klinik für Neurologie der
Universität Bonn haben nun einen Umweg genommen: Sie reprogrammierten
Hautzellen von Patienten mit einer erblichen Bewegungsstörung in so
genannte induziert pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) und gewannen
daraus funktionierende Nervenzellen. Daran entschlüsselten sie, wie
die Krankheit entsteht. Ihre Ergebnisse erscheinen nun in der
Fachzeitschrift „Nature“.
Im Zentrum der aktuellen Bonner Studie steht die so genannte
Machado-Joseph-Erkrankung. Dabei handelt es sich um eine Störung der
Bewegungskoordination, die ursprünglich bei portugiesischstämmigen
Bewohnern der Azoren beschrieben wurde und heute die häufigste
dominant vererbte Kleinhirn-Ataxie in Deutschland darstellt. Die
Mehrzahl der Patienten entwickelt zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr
Gangstörungen und eine Reihe anderer neurologischer Symptome. Ursache
der Erkrankung ist eine sich wiederholende Erbgutsequenz im
Ataxin-3-Gen, die zur Verklumpung des entsprechenden Proteins führt,
wodurch schließlich die Nervenzellen im Gehirn geschädigt werden.
Unklar war bislang, warum die Erkrankung nur Nervenzellen betrifft
und wie die abnorme Proteinverklumpung ausgelöst wird.
„Alleskönner“ aus Hautproben von Patienten
Um den Krankheitsprozess auf molekularer Ebene zu studieren,
stellten Wissenschaftler um den Stammzellforscher Prof. Dr. Oliver
Brüstle am Institut für Rekonstruktive Neurobiologie der Universität
Bonn zunächst aus kleinen Hautproben von Patienten so genannte
induziert pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) her. Es handelt sich
dabei um Zellen, die in ein sehr frühes, undifferenziertes Stadium
zurückversetzt werden. Diese „Alleskönner“ lassen sich – einmal
gewonnen – nahezu uneingeschränkt vermehren und in alle Körperzellen
ausreifen. In einem nächsten Schritt wandelte das Team um Prof.
Brüstle die iPS-Zellen in Gehirnstammzellen um, aus denen die
Wissenschaftler beliebig Nervenzellen für ihre Untersuchungen
entwickeln konnten.
Das Besondere: Da die Nervenzellen aus den Patienten selbst
stammen, tragen sie dieselben genetischen Veränderungen und können so
als zelluläres Modell der Erkrankung dienen. „Diese Methode erlaubt
uns die Erforschung der Erkrankung an den wirklich betroffenen
Zellen, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten – fast so, als hätten
wir das Gehirn des Patienten in die Zellkulturschale gebracht“, sagt
Dr. Philipp Koch, langjähriger Mitarbeiter von Prof. Brüstle und
einer der Erstautoren der Studie. Zusammen mit seinem Kollegen Dr.
Peter Breuer von der Klinik und Poliklinik für Neurologie des Bonner
Universitätsklinikums stimulierte Koch elektrisch die künstlich
geschaffenen Nervenzellen. Dabei konnten die Forscher zeigen, dass
die Bildung der Proteinaggregate unmittelbar mit der elektrischen
Aktivität der Nervenzellen zusammenhängt. „Eine Schlüsselrolle spielt
dabei das Enzym Calpain, das durch den erhöhten Kalziumgehalt
stimulierter Nervenzellen aktiviert wird“, so der Biochemiker Breuer.
„Dieser neu identifizierte Mechanismus erklärt, warum die Erkrankung
ausschließlich Nervenzellen betrifft“, betont Prof. Brüstle.
Reprogrammierte Nervenzellen als Studienobjekt für Medikamente
„Die Studie verdeutlicht, welches Potential diese spezielle Art
der Stammzellen für die neurologische Krankheitsforschung hat“, sagt
Prof. Dr. Thomas Klockgether, Klinischer Direktor des Deutschen
Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) und Direktor der
Bonner Universitätsklinik für Neurologie, dessen Team in dieser
Studie eng mit den Wissenschaftlern um Prof. Brüstle
zusammenarbeitete. Für Prof. Brüstle Grund genug, bereits über neue
Strukturen nachzudenken: „Wir brauchen interdisziplinäre Abteilungen,
in denen Wissenschaftler aus der Stammzellbiologie und der
molekularen Krankheitsforschung Seite an Seite zusammenarbeiten.“
Prof. Dr. Dr. Pierluigi Nicotera, wissenschaftlicher Vorstand und
Vorstandsvorsitzender des DZNE, pflichtet ihm bei: „Das DZNE hat
großes Interesse an Kooperationsstrukturen. Denn reprogrammierte
Stammzellen weisen für das Verständnis der Pathologie
neurodegenerativer Erkrankungen ein enormes Potenzial auf.“
In einem nächsten Schritt wollen Prof. Brüstle und seine Kollegen
von Life & Brain reprogrammierte Nervenzellen für die Entwicklung von
Wirkstoffen zur Behandlung neurologischer Erkrankungen einsetzen.
Publikation: Koch, P., Breuer, P., Peitz, M., Jungverdorben, J.,
Kesavan, J., Poppe, D., Doerr, J., Ladewig, J., Mertens, J., Tüting,
T., Hoffmann, P., Klockgether, T., Evert, B.O., Wüllner, U., Brüstle,
O. (2011) Excitation-induced ataxin-3 aggregation in neurons from
patients with Machado-Joseph disease. Nature doi:10.1038/nature10671
Pressekontakt:
Prof. Dr. Oliver Brüstle
Institut für Rekonstruktive Neurobiologie
LIFE & BRAIN Center
Universität Bonn
Telefon: +49-228-6885-500
E-Mail: brustle@uni-bonn.de